Die Frau war zum Wochenende aus Memmingen herüber gekommen, weil sie hoffte, die schwäbische Gottesmutter sei ihrer Schuld gnädiger als die bayerische Madonna. In einer kleinen Pension oberhalb des Münsters hatte sie ein ruhiges Zimmer für eine unruhige Nacht gefunden.
Am Morgen lag dicker Nebel im Tal. Hätte der Wirt sie nicht geführt, sie wäre am Münstertor vorbei gegangen.
Vor dem Kreuzaltar versuchte sie zu beten. Es wurde nur ein Weinen.
Sie suchte einen Beichtiger, wurde für fünf Uhr am Nachmittag bestellt. Nass von Nebel und Tränen tastete sie sich in ihre Bleibe zurück. Tabletten verhalfen zu einem quälenden Schlaf.
Gegen halb fünf erwachte die Frau, erschrak wegen der späten Zeit. Rasch zog sie sich etwas über und hastete durch den Nebel. Mauern, Häuser waren nur zu ahnen, keine Menschenstimme zu hören. An der Hauptstraße suchten vereinzelte Autos ihren Weg. Das Lampenlicht war fast nicht zu erkennen. Sie tastete die Mauer des alten Klosters entlang, wollte in das Tor einbiegen.
Vor ihr stand ein Mann.
Sie zögerte, versuchte auszuweichen.
Der Mann hob den Arm.
„Du, guck mal, ich will Dir was zeigen.“
Die Frau trat einen Schritt zurück.
„Guck, wie schön lang der ist.“
Die Frau wich weiter zurück. Der Mann kam nach, die Hand ausgestreckt.
Da drehte sie sich um, rannte los, prallte gegen eine Absperrung, hatte das Gefühl, jeden Augenblick gegriffen zu werden.
Hinter ihr das Rufen.
„Halt doch! Ich will Dir nur was zeigen! Nur was zeigen! Renn doch nicht weg! Nur was zeigen!“
Sie kam vom Gehsteig ab, stolperte auf die Fahrbahn. Gegenüber schimmerte Licht. Sie rannte darauf zu. Um die Ecke kam ein Wagen, streifte sie, fuhr weiter. Der Anprall ließ sie stürzen. Ihr Kopf traf die Bordsteinkante.
Aus den Häusern huschten Menschen, zogen sie von der Straße weg. Die Polizei wurde gerufen, der Notart, die Ambulanz.
Es war zu spät.
Die Frau war tot.
Am nächsten Tag standen 5 Zeilen in der Zeitung: Fahrerflucht.
Der Mann aus dem Torturm hatte das Unglück bemerkt. Wegen der aufgeregten Stimmen traute er sich nicht, näher zu treten. Als die Polizei kam, drehte er um und trottete seinen Weg. Am Eingang zur Psychiatrie hob er vor dem Pförtner den Arm.
„Du, guck mal, wie schön lang der ist!“
Auf seiner Hand glänzte ein spindelförmiger reinweißer Kiesel.