Dr. Wolfgang Hubach

Die kleine Tankstelle am Dorfende war als einzige in der ganzen Gegend. Sie wurde von einem Ehepaar betrieben. Geöffnet war sie von morgens sechs bis abends zehn Uhr.

10 Minuten vor 10 ging der Mann mit den Scheinen in der Geldbombe zum Tresor bei der Raiffeisenbank.

5 Minuten vor 10 holte die Frau den Kasseneinsatz hervor und begann, die Münzen des Wechselgeldes zu zählen.

4 Minuten vor 10 kam ein maskierter Kerl in den Verkaufsraum und schoss sofort die Überwachungskamera entzwei. Dann richtete er die Waffe auf die Frau, stellte eine große geöffnete Tasche auf den Tresen und befahlt: „Geld!“

Die Frau schob ihm die Münzen hin und sagte: „Die Scheine hat mein Mann schon zur Bank gebracht.“

Der Gangster schüttete das Geld in die Tasche und befahl: „Zigaretten! Alle!“

Die Frau begann, die Rauchwaren in die Tasche zu packen.

3 Minuten vor Ladenschluss schlich sich der letzte Kunde im Verkaufsbereich hinter den Kerl, in der Hand eine viereckige Flasche Kirschwasser, die er am Hals gepackt hatte.

2 Minuten vor 10 schlug er zu. Die Kante der Flasche zertrümmerte ihm sofort den Schädel.

1 Minute vor 10 rief die Frau zuerst ihren Mann an, dann ihren Schwager.

Punkt 10 Uhr verständigte sie die zuständige Polizeistation.

Bis die Beamten kamen, drängte sich schon das halbe Dorf in der Tankstelle, um den Mutigen hochleben zu lassen.

Die Beamten zeigten das Gegenteil von Lob, sie waren zum einen sauer, weil die vielen Menschen alle Spuren verwischt hatten, zum anderen, weil der Zuschläger sich grundlos in Lebensgefahr begeben hatte.

Die Dorfbewohner störte das nicht, für sie war und blieb der Täter ein Held.

Dann kam das Schreiben von der Staatsanwaltschaft, dass dieser wegen vorsätzlichen Totschlags angeklagt werde. Seither ist niemand mehr im Dorf und niemand mehr in der Umgegend bereit, Zivilcourage zu zeigen.   

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