Es muss im Mai 1946 gewesen sein, als meine Schwester ein Gänseküken geschenkt bekam. Wulle, das Vieh.
„Spätbrut!“, urteilte Oma Otti. „Halbverreckt, das wird nix!“
Es wurde doch! Dank Körbe voller Brennesselblätter, gemischt mit Kleie, die wir irgendwo aufgetrieben hatten, überlebte Wullevieh, sah aber mit dem seltsam verbogenen Hals, dem am Boden schleifenden linken Flügel und den ungleichlangen Füßen nie wie ein richtiger Vogel aus. Dennoch, als der Herbst kam, war aus dem Wirdnix ein zwar hässlicher aber recht gewichtiger Gänserich geworden.
„Jetzt müssen wir Keschde suchen, damit es ein Fest wird, denn diesjahr essen wir an Weihnachten nicht nur Grumbeerküchle und grünes Tomatenmus“ sagte Oma. Wir verstanden nicht recht, was sie meinte, halfen aber eifrig beim Sammeln.
Dann war es Winter geworden. Kurz vor Heiligabend fing Oma das Wullevieh und, obwohl es sich heftig werte, bekam sie seinen Kopf auf den Hackklotz. Ein Beilhieb, ein Aufbäumen des Tieres waren eins. Meine Schwester schrie „Halt!“ und „Nein!“, es war jedoch zu spät, der Schlag war getan, der Gänserich aber anscheinend nicht tot, denn er, missgestaltet, krumm und verbogen, er, der die ganzen Monate keinen rechten Schritt hatte tun können, er riss sich los, reckte den kopflosen Hals, breitete die Flügel aus und begann zu fliegen, hoch, höher, schwebte wie ein weißer Schwan über das Scheunendach in den Garten hinab.
„Das Herz!“ versuchte Oma zu erklären. „Das Herz! So eines müsste jeder haben!“ Meine Schwester aber rief in einem fort: „Wullevieh ist ein Engel! Er ist zum Christkindl geflogen!“
Zu Weihnachten gab es dann tatsächlich keine Küchle, sondern Kastanien, dazu Rotkraut und Gänsebraten. Nur Mama und Oma nahmen von dem Fleisch. Wir Kinder weigerten uns, es auch nur zu kosten.
Gänseengel isst man nicht!