„Hallo, ich wusste gar nicht, dass Du schon angekommen bist!“
„Ich komme immer an.“
„Gehen wir essen?“
„Wohin?“
„Caveau?“
„Bleib lieber hier in der Snackbar.“
„OK. Vielleicht treffen wir jemanden.“
„Optimistin!“
„Zumindest werden wir hier nicht alleine an einem Tisch sitzen müssen.“
„Weißt Du schon, wann Du zu den Deinigen fährst?“
„Gar nicht. Bei Liese kommt Nachwuchs, also müssen meine Eltern nach Düsseldorf. Und in dem Stall ist für mich keine Herberge.“
„Wo wirst Du dann an Heilig Abend sein?“
„Weiß nicht.“
„Daheim?“
„In meiner Wohnung, meinst Du!“
„Ich werde auch alleine sein. Mutter hat Mallorca gebucht. Meine Schwester muss zu den Schwiegereltern. In dem Stall bin ich unerwünscht!“
„Was ist mit Martin?“
„Passé!“
„Sag’ bloß!“
„Perdu! Vorbei!“
„Eine andere?“
„Offensichtlich. Er scheint angekommen zu sein.“
„Nein!“
„Entschuldige! Setzen wir uns weiter in die Mitte? Platz ist noch genug.“
„In Ordnung.“
„Zwei Sherry, bitte, und die Karte.“
„Ich bin vorhin über den Weihnachtsmarkt gegangen, dort steht ein Weihnachtsmann mit einem echten Rentier und sammelt für einen kleinen Zirkus. Ich habe einen Fünfer in die Büchse geworfen und das Geweih gestreichelt. Das bringt Glück.“
„Glück? Für Heilig Abend vielleicht?“
„Ach, lass’ doch, das wird ein Tag wie jeder andere!“
„Wie jeder andere! Wie alle anderen, wie alle Tage von jetzt an und in Ewigkeit!“
„Amen!“
„Prost!“
„Horch mal! Da singen welche!“
„Vom Himmel hoch da komm ich her.“
„Letztes Jahr am vierten Advent war ich mit Martin in Rothenburg auf dem Christkindelsmarkt.“
„Und dieses Jahr sitzt Du mit mir an der Bar!“
„Magst Du nicht … an Heilig Abend, meine ich … zu mir …?“
„Und wenn einer kommt?“
„In den nächsten drei Tagen?“
„Vielleicht vom Himmel hoch?“
„Ja, stell Dir vor, auf einem Rentier reitend!“
„Mit rotem Mantel!“
„Und langem, weißem Bart!“
„In den kannst Du Dich einwickeln, dann wird dir warm!“
„Pfui Teufel!“
„Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seiner Rute!“
„Grässlich! Prost!“
„Was sollen wir denn essen? Ich habe überhaupt keinen Hunger.“
„Dann iss auf den, der kommt.“
„Ja, dann kommt wenigstens einer. Schließlich, auch Essen macht dick!“
„Oh? War was?“
„Beinahe.“
„Von wem?“
„Vergiss es! Ich habe ihn auch vergessen!“
„Menschenskind! Immer dasselbe! Los, rede schon!“
„Es gab ja keinen. Da setzte ich für eine Weile ab. Dann kamen Allerheiligen und Bußtag und all die schönen Tage mit einem Wetter zum Verzweifeln. In der Firma war Besuch aus Schweden. Ich hatte die Wahl, ihn oder Adumbran. Ich habe falsch gewählt.“
„Warum hast Du nichts anderes genommen?“
„Es war mir zu der Zeit alles so egal!“
„Ganz was neues!“
„Nichts! Einfach leer! Burn out!“
„So schlimm?“
„Eigentlich nicht. Ein Wochenende, wie man es sich wünscht. Gepflegtes Essen, Theater, Zärtlichkeit. Er war ungemein rücksichtsvoll. Aber es ist nichts angekommen. Nur Leere. Er hat es bemerkt, aber nichts gesagt. Und sich bis heute nicht wieder gemeldet.“
„Wahrscheinlich ist das gut so.“
„Verabschiedete sich am Montag früh, ich ging ins Bad und wusste plötzlich: Verdammt, du hast nichts genommen. Ich habe geschrieen vor Angst und Wut und Ekel. Es war was da, ich fühlte es. Noch bevor ich ganz sicher war, ging es weg. Jetzt schlucke ich wieder. Prost!“
„Du Ärmste! Entschuldige. Bitte zwei Mal Sekt. Wir essen später.“
„Nein, bestelle bitte. Ich nehme Rice colonial.“
„OK. Ich auch.“
„Mit Salat, bitte.“
„Skol! Auf den Schweden!“
„Du bist heute wieder feinfühlig wie ein Boschhammer!“
„Sorry! Auf Dich!“
„Auf uns! Jetzt erzähl mir mal was Schönes!“
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Kind sollte geboren werden …“
„Du lässt kein Fettnäpfchen aus!“
„Drei Mal darfst Du raten, warum.“
„Martin?“
„Ja! Ja! Ja! Zufrieden?“
„Bist du es?“
„Nein! Nein! Nein! Weshalb fragst Du so blöde?“
„Advent! Advent! Alles in Erwartung, dass er kommt.“
„Welcher?“
„Warte ab!“
„Wie lange noch? Werden wir jünger beim Warten?“
„Hier kommt ja schon einer, der Teller mit dem Essen.“
„Microgewelltes.“
„Vitaminschonend Zubereitetes.“
„Vorgekochtes!“
„Für die schlanke Linie!“
„Macht nicht dick!“
„Hör auf damit, oder ich werde hysterisch!“
„Werden kannst Du nur, was Du nicht bist.“
„Sehr witzig! Gestatte, dass ich lache!“
„Im Ernst und ganz nüchtern: Sind wir’s nicht, so ganz ohne …?“
„Quatsch!“
„Hörst du? Sie singen wieder.“
„Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann stehn zwei Martins vor der Tür.“
„Einer würde schon reichen!“
„Für uns beide?“
„Verdammt, das Zeug schmeckt wie gestorbene Liebe!“
„Ich mag auch nicht mehr.“
„Zehn kleine Negerlein könnten von dem Rest noch satt werden.“
„Pfeif‘ drauf, Du änderst die Welt auch nicht mehr.“
„Aber ich denke wenigstens daran, drei Tage vor dem Fest der Liebe.“
„Fängst du schon wieder an?“
„Hast Du ein interessanteres Thema?
„Ja. Zwei Sekt, bitte.“
„Mensch, mir reicht es jetzt schon!“
„Du musst doch nicht fahren! Wir trinken noch zwei und dann noch zwei, und dann nehmen wir ein Taxi, und dann schlafen wir beim Duschen schon ein, ganz ohne Martin und ohne Adumbran!“
„Vorher singen wir noch schnell: Oh du fröhliche stille Nacht, heidschi bumbeidschi bumbum.“
„Prost!“
„Prost!“
„Du, der Martin, der kann ja gar nicht kommen, er hat doch seinen Mantel weggegeben, jetzt ist er bestimmt erfroren!“
„Was teilt er seinen Mantel auch mit einem Bettler!“
„Statt das Bettle mit uns.“
„Lästerzunge!“
„Schwere Zunge!“
„Schäme Dich!“
„Wofür?“
„Für alles und nichts.“
„So viele Männer gibt es auf der Welt und nicht einer ist hier, für den es sich lohnte, sich zu schämen.“
„Diese Typen rundum, schau sie Dir doch an. Die sind noch viel alleiner als wir.“
„Die können sich wenigstens vollaufen lassen, Heilig Abend.“
„Wir etwa nicht?“
„Prost! Noch einen Schlaftrunk. Zwei Mal, bitte.“
„Warum sagt von den Kerlen hier keiner zu uns: Ihr Kinderlein kommet?“
„Erstens sind wir keine Kinderlein mehr mit den ersten grauen Haaren auf dem Kopf. Zweitens haben die vor Kinderlein noch mehr Angst als wir. Drittens wissen die genau, dass nichts Dauerhaftes daraus werden kann.“
„Warum nicht?“
„Wie denn? Schau sie Dir doch an!“
„Womit wir wieder beim Thema wären.“
„So?“
„Jetzt muss ich Dir etwas beichten. Ich konnte meine Schwester noch nie leiden, das weißt Du. Aber weißt Du auch, dass ich sie beneide? Nicht, weil sie doch noch geheiratet hat, das war gar nicht anders möglich bei den Steuern. Familien mit Kindern, aber ohne Trauschein sind für den Staat die idealen Weihnachtsgänse. Sie können nach Belieben ausgenommen werden.“
„Und was neidest Du?“
„Dass sie jemanden hat. Dass sie ‚Wir’ sagen kann. Wir, mein Mann und ich. Wir, die Kinder und ich. Wir! Wir! Wir! Und was kann ich sagen? Immer nur ‚Ich’!“
„Willst du auf Dein Ich verzichten?“
„Für das Wir sofort. Und wenn es nur für kurze Zeit wäre. Einmal so richtig Wir-sein. Versinken darin. Einfach untergehen. Nicht daran denken, dass es einmal zu Ende sein könnte, zu Ende sein wird. Einmal das Wir!“
„Hast Du das nie erlebt?“
„Erlebt? Erlitten, meinst Du! Das kannst Du Dir doch an drei Fingern abzählen! Wir, die Familie! In unserer Position! Wir, das wohlgekuppelte Paar aus befreundetem Hause. So herrlich passend! Ich siebzehn, er zehn Jahre älter! Gleiche Schicht, gleiche Erziehung, gleiches Vermögen, gleiche Ziele, gleiche Langeweile! Gleich lange Gesichter, als ich ihn hinauswarf, weil er eine Reine heiraten wollte! Eine Reine! Am nächsten Tag war ich keine mehr! Scheußlich!“
„Bei wem war es das nicht?“
„Seither suche ich das Wir. Gefunden habe ich immer nur das Ich, vor allem bei den anderen. An mich dachte keiner.“
„Männer!“
„Weihnachtsmänner!“
„Auch der an Weihnachten geboren wurde, war ein Mann.“
„Prost! Noch zwei Sekt!“
„Unmöglich! Du, ich fange gleich an zu heulen!“
„Sei froh, das erleichtert. Außerdem mögens Männer. Dann können sie trösten, die Überlegenen spielen, Dich an ihre breite Brust ziehen, diese überharten Nie-Heuler!“
„Auch Männer heulen, und sei es auch bloß an Heulig Abend, wenn sie alleine sind.“
„Die heulen alleine. Wir heulen alleine. Ich, du, er, sie, es heult alleine. Es lebe die heule Welt! Prost!“
„Und wo heule ich alleune? Wo heulst Du alleune?“
„Vielleicht bei der Heulsarmee, dort gibt es eine Weihnachtsfeier für Leute, die alleune sind
„Du kannst ja fragen, nachher, wenn sie hereingesungen kommen.“
„Im Ernst, was sollen wir tun?“
„Am besten bleiben wir hier sitzen und saufen durch bis Sylvester.“
„Hörst Du? Sie jubeln wieder. Lustig, lustig trallalalala.“
„Bald ist der Martin mit dem Säbel wieder da. Ach Kerl, Kerl, wie hast Du mir das antun können?“
„Komm, jetzt müssen wir wirklich gehen, sonst fängst Du noch hier mit dem Heulen an.“
„Gehen? Wohin? Auf’s Schloss zu unseren Prinzen?“
„In Gottes Namen heute zu mir.“
„Und morgen zu mir.“
„Und übermorgen suchen wir der Königin ihr Kind.“
„Zahlen, bitte!“
„Zahlen, ich!“
„Beide!“
„Richtig! Beide müssen wir bezahlen. Immer! Immer nur wir müssen bezahlen! Da haben wir ja unser Wir! Beim Bezahlen!“
„Halleluja!“
„Prost!“
„Ex!“
„Es stimmt so, Herr Ober.“
„Vielen Dank. Ich wünsche den Damen ein fröhliches Weihnachtsfest und ein gesegnetes Neues Jahr!“