Dr. Wolfgang Hubach

Benjamin sah den Schein auf der Straße liegen, bückte sich, um ihn aufzuheben, wurde dabei von einem Laster erfasst und so schwer verletzt, dass er sterben würde. Im Krankenhaus stellte man später fest, dass er bereits hirntot war.

Der Unfallarzt, der die verkrampfte Hand des Opfers öffnete, fand darin einen Ausweis.

„He, der ist Organspender! Los! Ab in die Klinik, solange er noch warm ist!“

Die Polizisten und der Photograph beeilten sich mit der Unfallaufnahme, der Krankenwagen nahm den Sterbenden auf und raste mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt in die Chirurgie.

Ärzte eilten herbei, arbeiteten rasch und gezielt, entnahmen alle Organe, die brauchbar waren, Pathologen untersuchten diese sofort und die Verwaltung verständigte unverzüglich potentielle Empfänger.

Niemand machte sich die Mühe, den Spenderausweis mit dem Personalausweis des Toten zu vergleichen.

Erst als die Polizei am nächsten Tag die Angehörigen gefunden und verständigt hatte, kam die Verwechslung auf.

Und damit begann die Katastrophe!

Der Chefarzt besuchte gerade die Intensivstation, war zufrieden, dass er Herz, Lunge, Leber, zwei Nieren und die Milz sechs Unglücklichen hatte einsetzten können, als es passierte.

Die Familie und damit auch der Verunglückte bekannten sich zu einer religiösen Gemeinschaft, die jeden Eingriff in den Körper strikt ablehnte, deren Anhänger lieber starben, als sich den Blinddarm herausnehmen zu lassen, denn nur wer unversehrt von dieser Erde ging, hatte die Gewissheit, am Tag des Jüngsten Gerichts die Auferstehung des Fleisches zu erleben!

Als die Eltern des Toten von der Organentnahme hörten, waren sie zunächst wie gelähmt. Dann erhoben sie ein lautes Geschrei, die Brüder und Schwestern im Herrn wurden zur Hilfe gerufen und es gab einen spontanen Klagegottesdienst. Anschließend stürmten sie die Klinik und verlangten nach dem Chef!

Sie hatten einen Anwalt mitgebracht, der ohne Gruß und Punkt und Komma herunterleierte: „Nach Artikel 2.2 Grundgesetz hat jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Sie haben gegen das Gesetz einen Menschen ausgeschlachtet und damit seine Würde verletzt. Somit haben Sie auch gegen Artikel 1 Grundgesetz verstoßen, denn die Würde des Menschen ist unantastbar.

Wir sind eine religiöse Gemeinschaft, für die die Unverletztheit des Körpers oberstes Prinzip ist. Da nach Artikel 4, 1 und 2: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens  und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind, dürfen wir auf Rücksichtnahme für unsere religiösen  Bedürfnisse bestehen.

Dazu gehört die Vollständigkeit des menschlichen  Körpers.

Unser so tragisch verunglückter Bruder wird schon deshalb große Schwierigkeiten haben, in den Garten Eden einziehen zu dürfen, weil sein Leib zunächst durch den Unfall und dann auch noch durch diese  Schlächter im Operationssaal verunstaltet worden ist.

Wir müssen deshalb den Schaden auf das unbedingt Notwendige begrenzen.

Wir fordern deshalb, dass Sie unserem Bruder unverzüglich und ordnungsgemäß alle seine Organe zurückgeben und  wieder einsetzen!“

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