Dr. Wolfgang Hubach

Früher gab es Maskenbälle überall im Land. Am beliebtesten im Städtchen war der Ball im Bahnhofcafé, denn dort bestand der Wirt darauf, dass alle Besucher voll maskiert sein mussten. Es war eben zu schön, um Mitternacht die Demaskierung zu fordern, weil sich dann die großen Überraschungen herausstellten, zum Beispiel dass die anschmiegsame Dame der verkleidete Schornsteinfeger oder der stramme Herr in Wirklichkeit die Apothekerin waren.

Die meisten Gäste waren Jahr für Jahr mittleren Alters. Dazu kamen einige Burschen und Mädchen, die für die großen Bälle zu jung waren, die aber hier von der Polizei geduldet wurden, weil wegen der Älteren genügend Aufpasser um den Weg waren.

Erich durfte damals zum ersten Male zum Ball. Er ging als Cowboy, mit großem Hut und Gummimaske, unter der er mehr schwitzte als im Sommer in der prallen Sonne. Da an Fastnacht durchweg Damenwahl angesagt war, musste er warten, ob ihn eine wählen würde.

Und da kam sie auf ihn zu und holte ihn zum Tanz. Sie trug eine enge lange schwarze Bluse und nichts darunter, wie die straffen Brüste zeigten, unter der Bluse eine schwarze Strumpfhose, wohl auch ohne etwas darunter, auf dem Kopf eine schwarze Perücke und die Maske zeigte ein schwarzes Schlangengesicht.

Die schwarze Schöne tanzte eng umschlungen mit ihm. Vorsichtig ließ er seine Hände wandern, sie zeigte ihm aber schnell die Grenzen, zog diese aber nicht zu eng. Sie holte ihn auch nicht zu jedem Tanz, aber je später es wurde, umso öfter und sie schmiegte sich immer enger an ihn. Dabei redete sie den ganzen Abend kein Wort, während er meist dummes Zeug brabbelte.

Punkt Mitternacht schlug der Wirt den Gong und rief „Demaskierung!“

Rundum brandete Gelächter auf, als sich die Gäste zu erkennen gaben und es manche Überraschung gab. Auch Erich riss sich die Maske vom Gesicht. Seine schwarze Tänzerin griff langsam nach oben und zog ihre Maske samt der schwarzen Perücke ab.

Erich erstarrte.

Es war seine Tante Emmi, die jüngste Schwester seines Vater und kaum zehn Jahre älter als er.

Während er zu stammeln begann, sie möge bloß den Eltern nicht sagen, lächelte sie und meinte: „Bürschel, Bürschel, du gehst ja ganz schön ran!“

Erich wusste nicht mehr, was er denken und was er sagen sollte. Emmi schickte ihn zur Garderobe, er solle seinen Mantel holen und den ihren gleich mitbringen. Dann gingen sie nach draußen. Die Nacht war dunkel, es gab Schneegestöber, das den fahlen Lichtschein kaum nach unten dringen ließ. Die Straßen waren leer, niemand begegnete ihnen. Emmi hatte sich untergehakt, und als er sich an der nächsten Ecke von ihr trennen wollte, hielt sie ihn fest mit der Bemerkung, ein Kavalier bringe seine Dame nach Hause.

Angekommen, schloss Emmi die Türe auf, zog ihn im dunklen Flur über die dunkle Treppe nach oben in das dunkle Bad, in die dunkle Dusche und in das dunkle Schlafzimmer. Dort lehrte sie ihn, wie und wo ein Mann zärtlich sein sollte.

Das war am Freitag vor Fastnacht gewesen, an dem seine Eltern beim Sängerball tanzten und, wie jedes Jahr, pünktlich um drei nach Hause kommen würden. Erich schaffte es, rechtzeitig vor ihnen daheim zu sein. Als seine Mutter in sein Zimmer schaute, schlief er schon.

Am Samstag Abend trafen sie sich in den gleichen Kostümen wieder. Bereits um 10 Uhr verließen sie getrennt das Café, gingen durch das erneute Schneegestöber in ihre Wohnung und dort lehrte sie ihn weiter. Und das alles in der Dunkelheit.

Am Sonntag, am Rosenmontag und an Fastnachtdienstag ging er mit Einbruch der Dämmerung zu ihr. Ab dem Aschermittwoch musste sie wieder arbeiten und hatte keine Zeit mehr für durchwachte Nächte. Dabei wäre es gar nicht aufgefallen, wenn er unter der Woche bei ihr vorbeigeschaut hätte. Die Menschen im Ort wussten, dass sie seine Lieblingstante war und hätten sich nichts dabei gedacht.

Ein Wochenende verging, er sah sie nicht. Am nächsten Samstagnachmittag schickte ihn seine Mutter zu ihr, etwas abzugeben. Sie empfing ihn mit rätselhaften Augen. Er wusste nicht, sollte er sich ihr nähern oder so tun, als wäre alles Geschehene vergessen. Da fragte sie ihn: „Wo warst du letzten Samstag und Sonntag?“

Er konnte keine Antwort geben.

Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn nach oben. Obwohl sie die Vorhänge dicht zuzog, war es nicht richtig dunkel im Raum und er musste zum ersten Mal erleben, dass Zusammensein auch nicht funktionieren konnte.

„Wie brauchen die Nacht!“ sagte sie und sie kamen sich nie mehr am Tage näher.

Am nächsten Samstag kam sie freudig zu ihm nach Hause und erzählte allen, sie habe eine Flugreise nach Kreta für zwei Personen gewonnen, über Ostern, und da sie zur Zeit ungebunden sei, habe sie an Erich als Begleiter gedacht.

Die Eltern stimmten sofort zu, dachten gar nicht daran, dass die beiden sich Zimmer und Bett teilen mussten, schließlich hatte Erich seit seiner Kindheit immer wieder einmal bei seiner Tante übernachtet.

Die vierzehn Tage auf der Insel im Mittelmeer vergingen für die beiden wie im Rausch. Bei Tage dösten oder schliefen sie in der Sonne, nur unterbrochen von den Mahlzeiten, wenn die Dunkelheit kam, zogen sie sich in ihr Zimmer zurück, Emmi breitete ihr mitgebrachtes schwarzes Seidentuch über das Bett und sie versanken in ihrer Liebe.

Zurück in der Heimat, trafen sie sich fast regelmäßig am Wochenende, wie seit seiner Kindheit gewohnt, er übernachtete bei seiner Tante, wie seit seiner Kindheit gewohnt, er ging für sie einkaufen, wie seit seiner Kindheit gewohnt und niemand dachte sich Etwas dabei, im Gegenteil, man bewunderte den kleinen Erich, der so klaglos seiner Tante all das besorgte, was sie brauchte.

So ging es mit den beiden einige Jahre lang, bis sie eines Tages sagte: „Ich bin schwanger!“ Erich schaute ganz entsetzt. „Aber das geht doch nicht! Wir sind doch Neffe und Tante!“

Es war das erste Mal, dass er auf die nahe Verwandtschaft ansprach und es sollte such das letzte Mal sein.

Emmi lachte. „Nein, natürlich nicht. Ich habe viele getestet und mir den Vater für meine Tochter genau ausgesucht, groß, blond, intelligent, strebsam, kurz einfach ideal.“

„Und wozu willst du ein Kind und woher weißt du, dass es eine Tochter sein wird?“

„Ich will im Alter nicht alleine sein. Und dass es eine Tochter wird, weiß ich schon. Sie wird Alexandra heißen.“

„Und was sagt der Vater dazu?“

„Der weiß von nichts. Und er wird auch nie etwas davon wissen.“

„Aber nach dem Gesetz musst du den Vater nennen!“

„Das kann ich nicht, denn es war bei einer Fete an der Uni und ich habe mir die Männer nicht gemerkt.“

Von da an gab es keine Affären mehr. Sie war mit ihren Nachtlieben an den Wochenenden zufrieden und er galt bald als eingefleischter Junggeselle und wurde deshalb in Ruhe gelassen.

So vergingen die Jahre. Niemand brachte jemals die beiden als Paar in Verbindung. Nur die Tochter wusste von ihrer Beziehung, denn die war einmal nachts aufgewacht und hatte die beiden überrascht. Sie verlor aber nie ein Wort darüber, sie wollte jedoch ab da nur noch in schwarzer Bettwäsche schlafen.

Als Alexandra selbst erwachsen geworden war, verkündete sie, sie werde gelegentlich die Nächte außer Haus verbringen. Auf die Frage mit wem, nannte sie den Namen. Es war ihr Nachcousin, Erichs Neffe, der Sohn seines Bruders Karl.

Und so begann alles wieder von vorn mit der Nachtliebe.

Dass sich Erich seit seiner Kindheit um Emmi sorgte, wurde wohlwollend bemerkt, denn er ließ sie nie im Stich, seine alte Tante.

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