Wir sind ein Singlehaus, pflegt Julia zu sagen. Sie hat recht, denn von gelegentlichen Affären abgesehen, haust jeder für sich allein.
Nicht dass wir uns abkapseln, im Gegenteil, wir kennen uns alle, wir duzen uns alle, wir gehen oft zusammen aus, aber da keiner von uns zu bürgerlichen Zeiten arbeitet, ist es notwendig und selbstverständlich, dass jeder auf jeden Rücksicht nimmt.
Wir leben in einem schönen alten Gebäude. Früher gab es da Herrschaftswohnungen über die ganze Etage hinweg, die hat man in Appartements aufgeteilt, gerade ausreichend für Menschen wie uns, allerdings mit dem Nachteil, recht hellhörig zu sein, denn die Zwischenwände sind sehr dünn. Das macht nichts, solange jeder für sich bleibt. Kommt aber mal Besuch, kann es schon störend werden.
Von den anderen Wohnungen kenne ich nur zwei, die von Julia gegenüber, weil wir gelegentlich die Schlüssel austauschen, wenn einer verreisen muss und die von Detlef, oben, in der Mitte. Aber diese Höhle kennen wir alle, denn Detlef ist so ungeschickt, dass er nicht einmal eine Raviolidose öffnen kann. Dauernd braucht er einen Handlanger oder jemand, der ihn verpflastert, wenn er versucht, etwas selbst zu tun.
Wir sind also ein Singlehaus, waren es, bis der nebenan den Rappel kriegte und zu seiner Thusnelda zog. Noch bevor wir uns auf einen Nachmieter einigen konnten, setzte er Möblierte rein. Flüchtlinge oder Aussiedler. Sie redeten mit uns in einem harten ostischen Deutsch, sofern wir zum Reden überhaupt Zeit hatten.
Die beiden kannten anscheinend niemanden in der Stadt. Sie gingen kaum aus, beschäftigten sich nur mit sich. Aber wie es so ist, wenn zwei zusammenleben, gibt es immer Unruhe, weil sie miteinander sprechen, weil sie sich zanken, weil sie dauernd etwas herumrücken müssen, und wenn solche Leute auch noch genau in der Mitte wohnen, wird das ganze schnell für alle unangenehm. Immer öfter musste ich an die Wand klopfen. Julia und die drunter und drüber machten den beiden sogar Vorhaltungen deswegen.
Bis der große Krach kam! Die beiden schrien sich an, Möbel polterten, Glas splitterte. Klopfen nützte nichts. Ich wollte mich gerade beschweren gehen, da kam Detlef die Treppe herunter gerast. Detlef ist Redenschreiber für Prominente, er arbeitet meist zu Hause und ist immer in Zeitnot; der kam also die Treppe herunter gerast, trommelte mit den Fäusten an die Tür der Störenfriede und brüllte:
„Ruhe!“
„Ruhe!“
„Ruhe, ihr verdammten Idioten!“
„Ruhe, oder ich hole die Polizei und lasse euch erschießen!“
„Kapiert ihr das, verdammtes Pack?“
Ganz plötzlich war es in der Nachbarwohnung still. Später konnte man eine Weile leises Weinen hören. Dann nichts mehr.
Von der Stunde an herrschte wieder Ruhe im Haus, so wie früher. Die beiden schienen uns bewusst aus dem Weg zu gehen. Wir haben sie jedenfalls wochenlang nicht gesehen. Bis eines Tages. Ich hatte die Nachtmoderation
gehabt und war erst im Morgengrauen heim gekommen, war gerade im besten Schlaf, als nebenan der Lärm wieder los ging. Wütend rannte ich zur Tür. Im Flur und auf der Treppe standen Polizisten, Feuerwehrmänner, der Hauswirt, Menschen in weißen Kitteln. Gegenüber Julia, die Faust an den Mund gepresst, die Zähne in den Daumen verbissen. Sie schaute zu mir her, nahm die Hand vom Gesicht und sagte:
„Die Stromrechnung!“
„Sie haben sie nicht bezahlt!“