Dr. Wolfgang Hubach

Müller war ihm zugeteilt und sollte heute erstmals ein Verhör führen, deshalb stand Lenz am Dunkelfenster, um ihn und den achtzehnjährigen Jungen, der seinen Vater erschlagen haben soll, zu beobachten.

Müller stellte geschickt seine Fragen, der Bursche schwieg beharrlich.

Ein Kollege kam in den Beobachtungsraum und reichte Lenz einen Umschlag mit Photographien, die er dem Verhafteten abgenommen hatte.

Müller zog sie heraus, betrachtete die Aufnahmen vom Tatort und von der Verhaftung.

Im Hintergrund war eine Frau zu erkennen.

Sheila!

Sheila wollte sie genannt werden, weil ihr Ingeborg nicht gefiel.

Sheila, mit der er eine kurze, heiße Affäre gehabt hatte, ausgerechnet während diese ihre von den Eltern arrangierte Heirat vorbereitete.

Zum letzten Mal waren sie in der Hochzeitnacht zusammen gewesen, die er mit ihr verbrachte, weil der Bräutigam stockbesoffen in das Krankenhaus hatte eingeliefert werden müssen.

Sheila, sie musste jetzt 38 sein, im besten Alter für eine Frau.

Ob sie die Mutter des Jungen war?

Wahrscheinlich, sonst hätte er das Photo nicht mit sich herumgetragen

Der Junge schwieg weiterhin, öffnete aber sein Hemd, wohl weil ihm heiß geworden war.

Das Muttermal!

Dieser lang gezogene tiefbraune Halbmond war eindeutig erkennbar.

Lenz verließ den Raum und eilte zur Toilette.

Er öffnete sein Hemd und starrte auf das Mal an seinem Schlüsselbein.

Auf den lang gezogenen tiefbraunen Halbmond.

Der Junge war sein Sohn!

Gezeugt in des anderen Hochzeitsnacht!

Und der hatte nicht seinen Vater erschlagen, sondern Sheilas Mann!

Lange stand Lenz und starrte in den Spiegel, ohne sich wirklich zu sehen.

Sein Sohn!

Langsam ging er zum Beobachtungsraum zurück.

Das Verhör war beendet, der Junge hatte überraschend gestanden.

Monate vergingen, bis es zum Prozess kam.

Lenz vermied es, in den Gerichtssaal zu gehen.

Die Tat war klar, ein Geständnis lag vor.

Der Richter wollte ein warnendes Beispiel geben und verurteilte den Jungen nach dem Erwachsenenstrafrecht.

Lebenslänglich!

Das bedeutete bei guter Führung mindestens fünfzehn Jahre Gefängnis!

Dann würde der Junge 33 sein, Sheila 53 und er 63 und wahrscheinlich schon in Pension!

Was sollte er tun?

Zu Sheila zu gehen, traute er sich nicht.

Zu dem Jungen zu gehen traute er sich auch nicht.

Er wusste, das war feige.

Trotzdem, er traute sich nicht.

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