Dr. Wolfgang Hubach

Endlich war der 6. Januar da.

Seit Tagen schon peitschte der Wind Eiskristalle durch die Stadt.

Die ersten Erfrorenen hatte man bereits aus dunklen Winkeln gezogen, wo sie vergeblich Schutz vor der Kälte gesucht hatten.

Die Weihnachtstage waren schrecklich gewesen, weil sich niemand aus den Häusern getraut hatte und so auch niemand ein paar Groschen gab. An Sylvester wurden auch noch einige Obdachlose verletzt, weil irgendwelche Rüpel sich einen Spaß daraus gemacht hatten, wehrlose Penner mit Raketen zu beschießen. Die Getroffenen konnten dann aber wenigstens einige Stunden im warmen Krankenhaus verbringen und Essen hatte es dort auch gegeben.

Doch jetzt war der 6. Januar gekommen und der Pfarrer hatte die Dreikönigskirche geöffnet, wie in jedem Jahr, für vier Wochen, über die kälteste Jahreszeit hinweg.

Die ersten der Ärmsten standen schon Stunden vorher an der Tür, frierend aber voller Vorfreude. Es würde warm sein drinnen und es würde warmes Essen geben und es würde warme Kleidung verteilt werden, denn bestimmt hatten viele Leute wieder gestiftet, was sie selbst nicht mehr tragen wollten.

Drinnen begann die Orgel zu spielen.

Oh du fröhliche Weihnachtszeit!

Die Tür ging auf.

Die frierenden Menschen drängten in den Kirchenraum.

Dort hatte man die Bänke zur Seite geräumt.

Jetzt standen Tische und Stühle da.

Der Duft nach warmer Suppe ließ bei manchem den Magen zusammenkrampfen.

Die Kirche war im Nu gefüllt.

Es waren mehr gekommen als im vorigen Jahr und das waren damals schon mehr gewesen als im Jahr zuvor.

Die Menschen setzten sich.

Einige sangen das Lied mit.

Frauen begannen, Suppe zu verteilen, danach Brot und danach bekamen alle noch eine Tüte mit Weihnachtsgebäck, als nachträgliches Christkindchengeschenk.

Der Organist spielte noch eine ganze Weile, die Menschen unterhielten sich lebhaft, alle schienen zufrieden zu sein.

Ziemlich zum Schluss, als einer der Nachzügler, betrat ein alter Mann die Kirche, auf zwei Stöcke gestützt, ärmlich aber sauber gekleidet. Er setzte sich in eine Ecke und bedankte sich artig bei der Frau, die ihm seine Suppe brachte und ging, nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, sofort wieder weg.

So ging das Tag für Tag.

Der alte Mann versuchte immer, einen Platz für sich alleine zu bekommen, was selten gelang. Saßen andere mit am Tisch, beteiligte er sich nicht an deren Geschwätz.

Anfang Februar, als das Ende der kostenlosen Versorgung absehbar war, kam an einem der Tische Unruhe auf.

Obwohl Betrunkene offiziell nicht in die Kirche gelassen wurden, hatten es drei, vier Raufbolde an diesem Tag doch geschafft, zum Mahl vorzudringen. Einer schien den Alten zu kennen, denn er begann mit seinen Kumpanen zu tuscheln, wobei diese immer unverhohlener zu ihm hinüberblickten. Dann schlangen sie plötzlich ihr Essen hinunter und verließen die Tafel.

Der Mann tunkte mit einem Stückchen Brot die letzten Reste aus seinem Teller, nahm seine Stöcke, nickte den mit an seinem Tisch sitzenden Frauen zu und schlürfte davon.

Es war schon dämmrig draußen.

Der Ostwind trieb nassen Schnee durch die Straßen.

Die Stöcke des Mannes rutschten auf dem glatten Boden aus.

Kaum ein Fußgänger war zu sehen.

Aus einem Hauseingang schoss eine Hand hervor und riss den Alten in die dunkle Ecke.

Zwei Raufbolde aus der Kirche hatten ihn geschnappt.

Fäuste begannen auf ihn nieder zu prasseln.

Lügner!

Betrüger!

Armenschinder!

Schnorrer!

Aasgeier!

Bei jedem Hieb stieß jeder der Schläger eine Beleidigung hervor.

Der alte Mann, der gar nicht dazu kam, um Hilfe zu rufen, sackte plötzlich zusammen.

Fußtritte gaben ihm den Rest.

Als er sich nicht mehr regte, versuchten die zwei abzuhauen und liefen direkt in die Arme eines Polizisten.

Sie schlugen diesen nieder und rannten davon.

Der Beamte hatte einen der Kerle erkannt und löste eine Fahndung aus.

Kurze Zeit später waren beide verhaftet.

Beim Verhör gaben die beiden ihr Motiv bekannt:

„Wir wollten ihm ja nur eine Abreibung geben. Wir haben ja nicht gewollt, dass er hingeht. Der Kerl ist in der Kirche gesessen und hat den armen Leuten das bisschen Suppe weggefressen, der verreckte Schnorrer, wo er doch mehr Geld hat als wie die alle zusammen dort!

Das ist die Wahrheit!“

Dies wiederholten sie immer und immer wieder.

Als die Beamten die einfache Wohnung des Toten durchsuchten, fanden sie Sparbücher und Hinweise auf Geldanlagen.

Ein Guthaben von zusammen über einer Million!

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