Dr. Wolfgang Hubach

Seit zehn Jahren war er den Panoramaweg überm Steinbruch nicht mehr gegangen und er hatte ihn auch nie mehr gehen wollen. Aber sein Enkel bestand darauf, zur Sonneckhütte zu gehen, unbedingt, wie damals, vor zehn Jahren. Sie waren an diesem Tag nur ein Stück des Weges hoch gelaufen, denn die Beinchen des Dreijährigen trugen noch nicht allzu weit.

Oberhalb des Steinbruchs, an der kleinen Quelle, hatte das Kind einen Salamander entdeckt und war deswegen ganz aufgeregt gewesen. Von der Hütte her war ein Mann gekommen, der unsicher lief und dabei laut räsonierte, weil man ihn aus dem Wirtshaus geworfen hatte. Der Kleine schien sich vor dem Kerl zu fürchten, denn er war zu seinem Großvater geflüchtet und hatte sich an dessen Bein geklammert.

Der Fremde, der offensichtlich zu viel getrunken hatte, sah das Kind, hob seinen Stock und schrie „Was will dieser Verreckling schon am Berg? Der ist etwas für Männer und nicht für so eine halbe Portion! Fort mit ihm, oder ich schlage ihn tot!“

Der Kleine begann zu weinen, während der Mann fuchtelnd immer näher kam. Da hob der alte Herr seinen Stock und gab dem Schreier einen Stoß vor die Brust. Der begann zu torkeln, drehte sich um sich selbst, kam dabei zu nahe an den Abgrund und stürzte in den Steinbruch hinab. Opa und Enkel drehten um und liefen den Weg zurück, ohne ein Wort über den Vorfall zu verlieren.

Am Fuße des Steinbruchs verläuft eine Trainingsstrecke für Bergradler. Ein Sportler fand den Gestürzten und verständigte die Polizei. Bei der Obduktion fand der Gerichtsmediziner über zwei Promille Alkohol im Blut des Toten. Die Sachlage schien klar zu sein, der Mann war im Suff abgestürzt.

Der Bürgermeister musste sich unangenehmen Fragen stellen, wieso und weshalb der Weg gegen die Steilwand immer noch nicht abgesichert war.

Der Junge hatte das Unglück anscheinend nicht richtig mitbekommen, denn er redete nie davon, immer nur von dem Salamander.

Die Eltern des Kindes waren ihrer Berufe wegen weit weg gezogen. Zu Besuch kamen sie nur noch die wenigen Tage in den Herbstferien, so wie in diesem Jahr. Und ausgerechnet da wollte der Junge mit seinem Großvater zur Sonneckhütte wandern. Auf Höhe des Steinbruchs, der jetzt durch ein Holzgeländer gesichert war, saß an der kleinen Quelle wieder ein Salamander. Der Junge war ganz entzückt, beobachtete das Tier in der Hocke und wollte zunächst gar nicht mehr weiter gehen. Plötzlich stand er auf und fragte: „Der Mann damals, als er da runter stürzte, hat der sich ein Bein gebrochen?“

Der Großvater zuckte nur die Achseln, sagte aber nichts.

Ein Bein gebrochen!, dachte er.

Nicht ein Bein gebrochen, das Genick!

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