Draußen, am Waldesrand, betreibt der örtliche Vogelschutzverein ehrenamtlich einen kleinen Park, in dem er Vögel zeigt, die sonst selten oder nie zu sehen sind. Hinter der öffentlich zugänglichen Anlage, versteckt unter Bäumen, findet sich eine Auswilderungsstation für verwundete und kranke Greifvögel. Die Tiere werden meist von Jägern, aber auch von normalen Bürgern gebracht, aufgepäppelt und, wenn möglich, später wieder ausgewildert. Da die Station einen guten Ruf hat, waren die Behörden dazu übergegangen, Greifer, die sie bei Besitzern beschlagnahmt hatten, weil diese die Vögel nicht artgerecht hielten, vorübergehend in der Station einzusetzen.
Nach Weihnachten, die Volieren waren weitgehend leer, weil die herbstliche Auswilderung sehr erfolgreich gewesen war, kam eine große Menge beschlagnahmter Greifer an, meistens einheimische Vögel, aber auch zwei Weißkopfadler und fünf afrikanische Geier. Dies war eine große Herausforderung für die Pfleger, denn die ehrenamtlichen Betreuer hatten sich auf einen ruhigen Winter eingestellt. Besonders der Verantwortliche für die Fütterung hatte plötzlich mehr zu tun, als im Sommer. Dann kam der Wintereinbruch. Die Medien hatten Stürme mit starkem Schneefall vorausgesagt. Der Futtermeister gab deshalb doppelte Portionen in die Käfige, damit er einen Tag aussetzen konnte, den er wusste aus Erfahrung, dass die Straße zum Park nur selten oder nie geräumt wurde.
Der Sturm und der Schneefall hielten an. Überall hatten sich Wehen gebildet. Zwischendurch ging ein Eisregen nieder, der gefror und alle Wege unpassierbar machte. Vier Tage dauerte das Unwetter und vier Tage lang konnte niemand zu den Vögeln vordringen. Am fünften Tag schlug sich der Futtermeister endlich bis zum Park durch. Er fütterte zuerst die kleineren Tiere, dann die Adler und zuletzt ging er zu den Geiern. Aus dem Schnee ragten Knochen heraus, ein blanker Schädel lag seitlich. Der Unterkörper stak weitgehend in einer Schneewehe, der Oberkörper war fast gänzlich abgenagt und die Geier saßen satt und voll gefressen in ihrem nach Süden offenen Holzverschlag.
Die Beamten der örtlichen Polizei hatten große Mühe, zum Park zu kommen. Sie standen vor den Resten des Toten, die aus dem gefrorenen Schneehaufen herausschauten. Sie begannen mit ersten Vernehmungen, befragten den Futtermeister und die beiden inzwischen gekommenen Hilfswilligen, die normalerweise zwei Mal in der Woche die Käfige reinigten. Niemand konnte sich erklären, wie das Unglück oder das Verbrechen hatte geschehen können.
Wind kam auf und es begann wieder zu schneien und die Knochen bedeckten sich mit Schnee. Die Männer zogen sich frierend in den Futterraum zurück. Große Terrarien standen herum, voll mit Mäusen, die gezüchtet werden, weil manche Greifvögel nur Lebendfutter annehmen. Einer der Polizisten öffnete die herumstehende Kühltruhe. Sie war voller gefrorener Küken, die Hauptmahlzeit für die meisten Greifer.
Als sich die Männer von der Spurensuche zusammen mit einigen Kriminalbeamten aus der Stadt endlich durch das wieder starke Schneetreiben gekämpft hatten, konnten sie vor der Voliere keine Spuren mehr feststellen, denn sowohl die Vogelfreunde als auch die Polizisten hatten den Schnee rundum zertrampelt.
So viel konnte aber ermittelt werden. Da der Unterleib, bedeckt mit einer dicken Lederhose, im Schnee gesteckt hatte, wurde festgestellt, dass es sich bei dem Toten um einen Mann unbekannter Herkunft handelte. Die Hose und ein dicker Sack, der auf ihm lag, hatten wohl verhindert, dass der untere Teil der Leiche mit angefressen worden war. Man vermutete, dass der Mann einen oder mehrere der Geier hatte fangen und in dem Sack mitnehmen wollen. Die sicher gestellten unteren Kleidungsstücke und die Fetzten der zerrissenen oberen Teile ließen vermuten, dass diese nicht in Deutschland gekauft worden waren. Der von den Geiern Zerfetzte schien also ein Ausländer zu sein. Wie er in die Anlage gekommen und was sein genaues Ziel gewesen war, ließ sich nicht mehr feststellen, weil Schuhspuren wegen des hoch liegenden Schnees nicht gefunden werden konnten. Die Reste des Mannes wurden daraufhin in die Pathologie gebracht. Die Kriminalisten hofften, dass nach der Schmelze noch weitere Hinweise gefunden werden könnten.
Später, als der Schnee zurückging, wurden weitere Kleiderfetzen gefunden. Ob der Mann unglücklich gestürzt und so ein Opfer geworden war oder ob die ausgehungerten Geier über ihn hergefallen waren, blieb Spekulation. Da vom Kopf nur der blanke Schädel übrig geblieben war, konnte kein Suchplakat erstellt werden. Die Abbildung des Gebisses, die man in das Netz gestellte hatte, in der Hoffnung, ein Zahnarzt würde dieses erkennen, brachte keinen Erfolg.
Der Fall wurde bis heute nicht geklärt.