Dr. Wolfgang Hubach

„Kommst du jetzt?“

„Wieso jetzt?“

„Ich will mit zur Kirche, um drei.“

„Davon wusste ich nichts.“

„In der Einladung steht es!“

„In der Einladung ist keine Zeit angegeben, folglich ist davon auszugehen, dass wir erst später kommen sollen.“

„Ich will aber mit zur Kirche!“

„Du weißt genau, dass seit Jahren um diese Zeit meine Sendung kommt! Du hättest mir rechtzeitig sagen können, dass du früher weg willst. Es wäre kein Problem gewesen, alles aufzunehmen und später zu hören.“

„Es wird schon eine da sein, die dir zuflüstert, wie es weiter geht!“

Trotz fraß ihr Gesicht zu Stein; zu hässlichem, grauem, zerfurchtem, alten Stein!

Job erhob sich, schaltete das Gerät aus, wollte das Bild verscheuchen, das ihn nun schon seit Monaten verfolgte; diese erstarrte Physiognomie bei einem Menschen, dem er einmal sehr zugetan gewesen war; den er versucht hatte herauszuholen aus der stumpfen Bauernbürgerlichkeit ihres Dorfes; vergeblich, wie er hatte einsehen müssen.

Graugänse werden sofort nach dem Schlüpfen geprägt.

Sie war eine Graugans.

Sie sah auch seit einiger Zeit einer Graugans immer ähnlicher; wie sie den Kopf hielt; wie sie ihn fixierte; wie sie sich kleidete.

„Bist du fertig oder soll ich alleine fahren?“

Die Stimme klang gewollt monoton, vibrierte aber vor unterdrückter Aggression.

„Ich weiß schon, du willst gar nicht mit, weil es zu uns geht! Du brauchst gar nicht mit! Ich kann alleine fahren!“

Sie stand an der Tür, Hass in den Augen, alt im Gesicht trotz ihrer Jugend.

Er gab keine Antwort, bedauerte nur, dass er die Sendung nicht zu Ende gehört hatte.

War das schon Resignation?

Resignation? Entsagung? Schicksalsergebenheit? Verzicht?

Er war verblüfft, dass er bei Verzicht `Ja‘ gedacht hatte; einfach `Ja‘! Er  verdrängte aber den Gedanken nicht.

Als Job in den Hof trat, stand der Wagen schon bereit; daneben stand sie; spielte nervös mit ihren Schlüsseln; wartete darauf, dass sie einsteigen könne; nicht auf der Fahrerseite; sie legte so fest, wer sich Alkohol erlauben durfte. Früher wäre er um das Auto herumgegangen, hätte ihr die Tür geöffnet, den Gurt gereicht; jetzt fragte er sich `wozu?‘, schlüpfte hinter das Steuer, beugte sich über den Nebensitz, schob die Arretierung hoch, ließ den Motor an, wartete, dass sie einsteigen möge.

Sie zögerte, wollte trotzen. Obwohl er nur einen kleinen Körperausschnitt sah, konnte er ihre Reaktion erkennen, diese Mischung aus Überraschung, Ärger und Verwirrtheit. Da aber die Zeit drängte, stieg sie wortlos ein und sicherte sich, während der Wagen bereits anrollte.

Job fuhr konzentriert, riskierte auf der Landstraße einiges, um gerade noch mit dem Glockengeläute vor der Dorfkirche anzukommen. Ländlich-festlich Gekleidete drängten sich zwischen einigen eleganten Städtern vor dem Portal, das mit einem großen Schild geschmückt war: `Dem Goldenen Paar‘. Eine Kutsche mit den Jubilaren kam um die Ecke. Rufe wurden laut. Fröhliche Leutchen halfen ihnen aus dem Gefährt, rückten das goldene Buchsbaumsträußchen zurecht und begannen mit dem feierlichen Einzug.

Job war trotz aller Vorbehalte immer wieder gebannt von diesem heiteren Durcheinander und dem spürbaren Zugehörigkeitsgefühl der Sippe.

Die Tür schlug zu. Man hatte den Wagen verlassen und sich zu Seinesgleichen gesellt. Er fuhr an, suchte einen Parkplatz, fand ihn vor dem Dorfcafé, nutzte die Gelegenheit und trank einen staubig schmeckenden Tee. Die junge Serviererin plapperte von dem seltenen Ereignis, stellte Erwägungen an, wie das wohl sei, fünfzig Jahre lang mit dem gleichen Mann, versprach sich, danach zu fragen, wenn sie nach Feierabend noch zum Fest kommen werde.

Die Glocken läuteten wieder. Job zahlte und ging langsam zur Kirche zurück, stellte sich in die offene Tür. Die Umstehenden schwätzten miteinander; verwunderten sich, wie rüstig die Alten noch aussähen; wer wie gekleidet sei; ob alles so glänze, wie es den Anschein erwecke; wo überall der Pfarrer in der Erinnerung gekramt habe; sogar von der Kriegszeit habe er gesprochen; in der Predigt; so was!

Die Menge strömte aus der Kirche. Er wurde begrüßt, von denen, die er kannte, von vielen, die ihn kannten, einfach deshalb, weil er eine der ihren aus dem Dorf herausgeholt hatte. Job wunderte sich noch heute manchmal, dass die Burschen damals nicht versucht hatten, ihn daran zu hindern; aber es war wohl schon die neue Zeit, in der im Besitzdenken die einheimischen Mädchen nicht mehr sehr hoch eingeschätzt wurden, bei den vielen Gelegenheiten, die sich überall boten. Auch auf dem Lande waren Frauen mittlerweile zum Massenartikel geworden; ob jene über die Männer genau so dachten?

Er versuchte sich vorzustellen, was man zu seinen Gedanken sagen würde, fand aber keine Antwort.

Überall wurde photographiert, gefilmt, sich begrüßt. Scherze hüpften über die Schar. Jemand deklamierte ein selbstverfasstes Festgedicht, das samt seiner kakophonen Rhythmik im Trubel unterging. Job fand das schade, war er doch gerade in eine boshafte Stimmung gekommen, die es ihm vermutlich erlauben würde, den Tag zu genießen, obwohl er sich wegen einer erst überstandenen Krankheit schon vom Auftakt erschöpft fühlte

Der Kutscher kam vorgefahren; lud das Paar zusammen mit einem Schock Kinder ein; zockelte los, gefolgt von einer Kolonne meist protziger Wagen, deren Fahrer getreu der samstäglichen Fernsehspektakel ein Hupkonzert veranstalteten.; an den Antennen wehten lange weiße Bänder; es fehlte nur ein Schild ‚Just Married’, um die Schmiere abzurunden.

Da man es vorgezogen hatte, mit irgendwelchen Cousins und Cousinen in eine der Limousinen einzusteigen, nutzte Job die Gelegenheit, im Café noch Mal einen Tee zu trinken, bevor er sich zum Landhotel begab, wo an die hundert Gäste im hinteren Saal herumlärmten.

„Tag, Job!“

„Haben wir uns schon begrüßt?“

„Wir haben schon?“

„Macht nichts.“

„Noch Mal, doppelt gemoppelt.“

„Bist du der Joachim?“

„Wo ist deine Frau?“

„Duzen wir uns eigentlich?“

„Warst du nicht in der Kirche?“

„Mensch, Job, du bist aber dick geworden!“

„Beim einen nährt’s, beim andern zehrt’s!“

„Job, hast du Annegret schon begrüßt?“

„Ja?“

„Macht nichts!“

„Doppelt genäht hält besser.“

„Du warst krank, hab‘ ich gehört?“

„Sag mal, Job, du bist aber mager!“

„Jaja, ein guter Hahn wird selten fett.“

„Kerstin! Kerstin! Komm zu Mutti! Gib dem Onkel Patschhändchen!“

Job stand im Gewoge, ein Glas mit einem Gemenge aus billigem Sekt und noch billigerem Orangengetränk in der Hand, nickte zu all dem Gerede, bis die liebe Kerstin ihr liebes Patschhändchen an seiner Jacke von Schokolade säuberte, um ihn artig begrüßen zu können. Die entsetzte Mutti zerrte ihn daraufhin trotz seiner Proteste mit vielen Entschuldigungen zu den Toiletten im Keller, wo sie versuchte, den Schaden möglichst unauffällig zu machen; dabei plapperte sie unablässig von der Unmöglichkeit, dieses Kind erziehen zu können; auf diesem Gebiet sei Kerstin ganz der Vater! Unmöglich!

Job war einesteils froh, dass er den plumpen Anspielungen oben entflohen war, andererseits war es ihm unangenehm, dass diese fremde Frau an ihm herumfingerte. Die Jacke hatte er anbehalten müssen, denn es gehe leichter zu bearbeiten, wenn alles gespannt sei, hatte sie gemeint. Sein Unbehagen schien sie zu amüsieren. Wie absichtslos fuhren ihre Hände über die beschmutzten Stellen hinaus. Dabei blitzten ihm ihre Augen Unmissverständliches zu.

Seine Unruhe wuchs. Zwar mochte er Flirts ganz gerne, aber nicht auf diese Art, schon gar nicht im Toilettenvorraum. Er fand das ganze unwürdig.

Jobs Augen suchten die Türen. Ein Messingrelief kennzeichnete die jeweilige Separation: Ein Pferdeschwanzmädchen auf einem Töpfchen verwies zu den Damen, ein Bübchen, das mit langem Strahl in ein übergroßes Nachtgeschirr zielte, zu den Herren. Er war nicht prüde, liebte Frivolités, aber in dieser Situation fand er sogar die Hinweisschilder ekelhaft.

Job bedankte sich kurz für die Hilfe, entschuldigte sich und trat in die Toilette ein. Lange verweilte er vor dem Spiegel, studierte sein in den letzen Tagen blass gewordenes Gesicht, lauschte auf das Türenklappen nebenan, die Spülung, den Ruck am Handtuchspender. Erneutes Türenklappen. Ein Schalter klickte; das Licht ging aus. Grau schimmerte durch die Glasbausteine. Schritte waren keine zu hören, aber er fühlte, sie stand draußen. Er glaubte, ihren Atem zu hören.

Von oben lärmten Kinder die Stufen herab.

„Tante Tilde, du stehst ja vor `Herren‘!“

„Warst du bei denen drinnen?“

„Du musst dort rein!“

„Hast du Onkel Joachim gesehen?“

„Wo kann der nur sein?“

„Huh, da ist es aber dunkel!“

„Bist du der Onkel Joachim?“

„Warum stehst du im Dunkeln?“

„Weißt du nicht, wo der Schalter ist?“

„Du sollst sofort kommen!“

„Alle trinken schon Kaffee, nur du bist wieder nicht da!“

„Hast du gesehen, Tante Tilde wollte zu Herren.“

„Wollte die zu dir?“

„Ich lach‘ mich tot!“

„Los, rauf, Toooorte!“

Job trat in den jetzt leeren Vorraum und stieg verdrossen die Treppe hoch. Zwei Augenpaare erwarteten ihn, spöttisch fordernd das eine, verweisend das andere.

Der Lärm im Saal war noch lauter geworden. Nachzügler kamen, grüßten, wurden willkommen geheißen, suchten ihre Plätze an der im Winkel aufgestellten Tafel, deren langer Schenkel die vielen Verwandten der Braut, deren kurzer die des Bräutigams zusammenführte, sorgfältig gestaffelt, erst die Kinder, dann die Geschwister, dann deren Kinder mit den schon erwachsenen Kindeskindern. Dort, wo die Tische zusammenstießen, saßen die Jubilare, gegenüber die nichtverwandten Gäste: Der Pfarrer, Bürgermeisters, Apothekers, einige, die Job nicht kannte. Die Kleinen wurden zum Nebenzimmer dirigiert, anscheinend sollte diese Tilde sie beaufsichtigen, denn sie wurde von der ältesten Tochter des Hauses energisch in das Sälchen befohlen.

Die meisten der Geladenen saßen bereits. Einige, die mit den Tischkarten nicht zurecht kamen, mussten ihre Stühle wieder räumen, standen verlegen lachend herum, fanden erst mit Hilfe der Horde Halbwüchsiger ihren Platz.

Hilfreiche Verwandte packten überall mit an, schleppten große Kannen mit Kaffee herbei, bedienten, so wie früher, als das Jubelpaar das Landhotel noch selbst bewirtschaftet hatte; und wie damals für ein Vergelt’s-Gott, schließlich gehörte man zusammen.

Als Job zu seinem Platz kam, wurde er angefaucht:

„Warum bist du nicht sofort gekommen? Alle trinken schon Kaffee, nur du bist wieder nicht da!“

Wie vertraut das klang!

Er gab keine Antwort; setzte sich; bedankte sich für das Eingießen; lehnte Zucker und Milch ab; ließ die Tasse unberührt stehen. Er hätte gerne einen Tee getrunken, aber er wusste, sein Wunsch hätte höchstens  Gelächter ausgelöst; denn wenn diese Maschine Familie einmal angelaufen war, konnte nichts und niemand mehr sie anhalten; Sonderwünsche waren dann unerfüllbar.

In der Saalmitte wurde eine Tischtennisplatte mit weißen Papiertüchern bedeckt; junge Mädchen trugen Kuchen herbei; gebacken von Tanten und Cousinen. Hälse reckten sich, Zungenspitzen drängten sich durch feuchte Lippen; die mit dem Rücken zum Saal saßen, drehten sich, um vielleicht schon eine Vorentscheidung treffen zu können, was man wählen, was man meiden solle. Der Koch brachte die Festtagstorte; sie war mit brennenden Wunderkerzen besteckt, deren Funken in der Helle des sonnigen Tages kaum sichtbar waren. Kinder rannten im Raum herum; versuchten, vom Kuchen zu naschen; wurden weggeschimpft; alle waren heiter und fröhlich.

Unter der Tür zum Nebenraum stand Tilde, die Tochter fest an der Hand. Ihr Blick erfasste ihn, lockend, drohend, als wolle sie sagen: Pass auf, mein Lieber, gleich lasse ich Kerstins pappige Patschhändchen wieder an dir säubern, dann musst du noch Mal mit mir; die Treppe runter; runter, noch nicht rauf; noch nicht!

Warum war sie alleine gekommen, ohne Kerstins Vater, den Unmöglichen, wie sie ihn genannt hatte?

Kuchenträgerinnen schoben sich zwischen ihre Blicke. Die Gäste riefen den Mädchen zu, welche Köstlichkeiten sie zuerst versuchen wollten, erbaten schmale Riemchen, um viele Sorten kosten zu können, fragten, wer was gebacken habe. Geschirr klang an Geschirr.

Die Jubilare dirigierten wortlos aber mit strengen, jahrzehntelang geübten Augen das Durcheinander.

Alle sind glücklich, zufrieden und froh, dachte Job; alle, nur wir nicht; wir nicht mehr, wir, und vielleicht diese Tilde.

Er musste sich zusammennehmen; so tun, als wäre alles in Ordnung; denn wie er von früheren Festen wusste, gab es zwar oft Gezeter und Geschimpfe unter den Paaren, aber es schien nie etwas ernsthaftes zu sein; nie etwas, das nicht mehr kittbar gewesen wäre; nichts, das einen dauerhaften Riss hinterlassen hätte. Er durfte sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen; sie stünden alle gegen ihn; er fühlte das.

Plötzlich hasste er diesen amorphen Haufen, und er schloss niemand von seinem Hass aus.

An Jobs Tisch unterhielt man sich, meist in Halbsätzen, aber mit strahlenden Augen und gestopftem Mund über ferne Onkel und Tanten; er achtete nicht darauf, bis der Name Tilde fiel.

„Ist alleine da.“

„Mit Kerstin“

„Dass die kommen durfte.“

„Die soll froh sein.“

„Sie gehört dazu.“

„Zur anderen Seite.“

„Ob die richtig ist für die Kinder?“

„Wozu ist die Hortnerin?“

„Die wird sie nicht gleich verderben!“

„In den paar Stunden?“

„Er soll auch so sein.“

„Die hat nur noch für andere Augen.“

„Andere Männer!“

„Unsere!“

„Die wird sich hüten!“

„Ganz aus der Art geschlagen!“

„Ich möchte wissen, vorhin …“

„Es ist komisch.“

„Nie haben die zusammen …“

„Gepasst.“

„Gepasst.“

„Nie!“

„Wenigstens war er damals so anständig und hat sie geheiratet.“

„Da war er blöd.“

„Sie hatte doch nichts genommen.“

„Ihn reingelegt.“

„Sagt sie nimmt und hat nicht.“

„Dabei muss er noch an eine andre zahlen.“

„Von früher.“

„Ich möchte trotzdem wissen, vorhin …“

„Mir käme die nicht mehr dazu!“

„Dabei wollen die etwas Besseres sein.“

„Von der anderen Seite!“

Die Missbilligung war einhellig; ein Fleck auf der weißen Brust der Eintracht; die Gesichter aber strahlten vor Behagen und unbekümmerter Freude.

Job fühlte sich plötzlich müde; die überstanden geglaubte Krankheit meldete sich wieder; er kannte die Anzeichen; diese Taubheit der Haut; das Kribbeln in den Füßen; verschwimmende Augenbilder; gedämpftes Hören; nachlassendes Tastgefühl

Er hätte zu Hause bleiben sollen; im Bett liegen; halbschlummern; tagträumen; entspannen.

Sein Körper sank kaum merklich zusammen; er wollte sich beherrschen; schreckte auf, als eine Stimme schrillte:

„Na, was ist denn das? Keinen Kaffee mehr? Und dann auch noch ohne Milch? Wo gibt’s denn das? Und keinen Kuchen? Früher hast du Kaffee kannenweise getrunken, und jetzt stellst du dich so an? Warte! Du kriegst ein Stück Torte und ein Stück Kuchen und dann wird gegessen! Und die Tasse wird auch leer getrunken!“

Zum ersten Mal nahm man ihn in Schutz:

„Lass ihn, er war krank.“

Doch die Stimme ließ nicht nach:

„Ach was, krank! Eine gute Tasse Kaffee hat noch niemanden geschadet! Und der hier ist besonders stark, der weckt Tote auf. Los! Trink und iss den Kuchen dazu, damit du nicht verhungerst!“

„Nein, lass mal, Tante Kathi, er soll noch keinen Kaffee trinken. Und Kuchen mag er sowieso nicht.“

Job war ihr dankbar; er konnte sich nicht erinnern, dass sie ihm in diesem Kreise schon einmal zur Hilfe gekommen war.

Die Stimme gab nicht auf:

„Los! Greif zu! Wir leben jetzt! Wer weiß, was morgen ist!“

Job bemühte sich, seine Schwäche zu überwinden; das verschwommen wahrgenommene Gesicht zu erfassen; die Person zu erkennen, die zu der Stimme gehörte. Um nicht dumme Sprüche zu provozieren, spreizte er unter

dem Tisch die Finger; klappte sie auf und zu; die Zehen; auf und zu; die Finger; die Zehen, auf und zu. Auf einmal konnte er wieder durchatmen; das Blut strömte; das Kribbeln verschwand; der Anfall ging vorbei.

Man kam ihm noch einmal zu Hilfe:

„Sag mal, Tante Kathi, der Kuchen stammt doch von dir? Also, wenn ich ehrlich bin, dann habe ich letzte Woche besseren gebacken.“

Tante Kathi strahlte:

„Hab ich’s nicht gesagt? Linzer Torte muss mindestens eine Woche stehen, sonst schmeckt sie nicht. Ich habe ja auch rechtzeitig gebacken, aber dann ist Schneider-Martins Liesel gekommen mit den Kindern und es war nichts im Haus, also haben wir gegessen, was da war, und ich muss neu backen. Merk dir, Kind, schneide nie eine Linzer Torte an, wenn sie nicht eine Woche gestanden hat!“

Sie nahm den Teller mit dem Kuchenrest, trug ihn weg, brachte ein Stück Frankfurter Kranz und rief über die Runde:

„Da, versuch den einmal! So was Ranziges hast du in deinem ganzen Leben noch nie gegessen! Den hat Astrid gebacken. Die wollte wieder mal sparen und hat alte Nüsse genommen! So was von abscheulich krieg ich überhaupt nicht hin!“

Astrid hatte wohl zugehört, denn sie kam herbei, lächelte entschuldigend und meinte, man könne doch die Nüsse nicht einfach wegwerfen, wo alles so teuer sei; sie habe gedacht, Frankfurter werde sowieso immer zum Schluss gegessen, da würden die Leute glauben, es schmecke nur deshalb nicht, weil man schon überfressen sei.

Alle lachten. Das Kuchenstück wanderte durch die Reihe, jeder brach sich einen Brocken ab, um die Scheußlichkeit zu kosten. Man bestätigte Astrid, der Kuchen sei zwar zart und die Füllung schön weich, aber er habe den Armeleutegeschmack. Nun erst wurde Astrid verlegen. Der Vorwurf traf!

Es gab aber keine Missstimmung, denn jederweib begann zu erzählen, wie viele Kuchen und Torten ihnen wann und wo wie schon missraten waren. Job konnte sich gar nicht vorstellen, dass es jemand fertig bringe, in seinem Leben so viel Teig zu mischen; dann kamen auch noch die Aufzählungen all der Gebäcke, die gelungen waren. Es musste sich um Alpenberge handeln.

Neue Gäste kamen, Tante Irma und Onkel Ottokar. Sie wie eine Scheuche gemodelt, schräger Hals, ungepflegte Haut, strähniges Haar, flüchtig zum Knoten aufgenestelt, krätziges Samtband um die Kropfnarbe, stumpfer Granat als Schließe. Er in gepflegtem Abgetragenen, grauer Homburg, Seidenschal, schwarzer Mantel, englisches Tuch, weiße Handschuhe, brüchige Lackstiefel, Stockschirm, als Stütze für den schlürfenden Gang; stechende Augen musterten die Versammelten.

Beide galten als wunderlich; man amüsierte sich über sie.

Ottokar hatte Karriere gemacht, er wäre beinahe Raiffeisenbankdirektor geworden, hatte bestens im Rennen gelegen, war so gut wie gewählt. Eine kleine Bemerkung zu Hause wegen eines Kredites war von ihr maulfertig verbreitet worden. Ernannt hatten sie einen anderen. Ihrem Zetern, er sei ein Versager, hat er sich auf eigene Weise entzogen: ein leichter Schlaganfall zwang ihn aus dem Dienst. Krankheit hatte verhindert, den Gipfel zu erreichen. So lautetet die offizielle Lesart; die andere Version hatte man Job schon dutzende Male im Vertrauen zugeraunt.

Kerstin kam angerannt.

„Opa! Oma! Krieg ich zehn Mark?“

Dahin also gehörte Tilde!

Oma brabbelte Wortfetzen:

„Tag sagen; ungezogen; undankbar; ich; ich; immer bloß Geld.“

„Krieg ich zehn Mark, Opa? Die gibt mir ja nichts!“

Eine vage Bewegung nach hinten meinte ihre Mutter.

Opa präsentierte seinen Stock wie ein Gewehr; sagte „Zu Befehl!“ legte den Hut auf die Ablage; stellte sich vor die Kleiderhaken; half seiner Irma aus dem Mantel; hielt ihn auf Armeslänge von sich; ließ ihn fallen:

„Schlinge kaputt!“

Kerstin lachte, jemand kam mit einem Bügel gerannt, bedauerte den armen Ottokar, dessen starre Pupillen schienen innerlich zu wogen. Job hatte schon immer den Verdacht, dass das Leiden ihn viel weniger behinderte, als er zeigte; es gestattete ihm eine Narrenfreiheit, die er weidlich ausnutzte. Keiner von der Sippe schien es zu ahnen.

Nichten halfen den beiden, geleiteten sie zu ihrem Platz

Krankheit schafft manchmal klaren Blick, erkannte Job. Er konnte nur Fetzen erfassen; Ausschnitte; des Geschehens; des Geredes; immer unterbrochen von Wellen des Unwohlseins; die wogten; über seinen Körper wogten; ihm kaum erlaubten, still zu sitzen; aber was er erfasste, erfasste er mit aller Tiefe; dahinter; die Harmonie; Maske; in diesem Haufen; unter diesen; wie Pech und Schwefel; zusammenhalten; jeder für jeden; WIR!

Die Kinder kamen in den Saal zurück, verschmierte Münder und satte Bäuche.

Sie spielten am Plattenschrank. Aus dem Lautsprecher schrillte ein Weihnachtslied; lautes Lachen; Ohren zuhalten; Gerenne.

Job stand auf, ging vor die Tür.

Drinnen drehte jemand auf leise; wechselte; Alpenjodler auf neunziger Band; fünf Mal fünfundvierzig Minuten.

Es zupfte am Ärmel. Kerstin stand neben ihm.

„Onkel, wir haben Telephon.“

„Ja?“

„Hast du das nicht gewusst?“

„Doch, alle haben Telephon.“

„Du weißt aber die Nummer nicht.“

„Ja.“

„Du weißt?“

„Nein.“

„Warum sagst du dann ja?“

„So, wie du gefragt hast, muss es Ja heißen.“

„Du bist dumm! Wenn man was nicht weiß, heißt es nein!“

„Nicht immer.“

„Doch! Weißt du die Nummer?“

„Nein.“

„Siehst du? Doch nein!“

„Ja.“

„Du bist schon wieder dumm!“

„Ja.“

„Verdammt, willst du die Nummer jetzt wissen oder nicht?“

„Nein.“

„Warum?“

„Was, warum?“

„Warum willst du die Nummer nicht wissen?“

„Weil sie im Telephonbuch steht, da kann man nachschlagen, wenn man sie braucht.“

„Du hast doch keines.“

„Hier nicht, aber zu Hause.“

„Dann brauchst du auch die Vornummer.“

„Wieso?“

„Du wohnst doch nicht bei uns.“

„Stimmt.“

„Ich weiß, wie die Vornummer anfängt.“

„So?“

„Mit Null!“

Kinder riefen.

Kerstin ließ ihn mit seiner Dummheit allein.

Job ging in den Saal zurück. Einige am Tisch begannen, das Geschirr zu stapeln, um Platz für die Ellbogen zu bekommen. Kerzen wurden ausgeblasen; mussten wieder angezündet werden; das gehört sich so; gehört sich nicht; kann man sparen; wofür – die haben’s ja.

Jobs noch volle Tasse blieb stehen.

Nach Schnäpschen wurde gerufen; Himbeerwasser; von Onkel Ewald; aus dem Odenwald.

Die ersten Gäste verabschiedeten sich, Bürgermeisters, der Herr Pfarrer. Er komme wieder, meinte der, zum Pfand lasse er seine Köchin da.

Wer wollte, durfte einen Klaren versuchen.

Job wusste zwar, dass er zurückfahren musste, aber schlimmer als er sich derzeit fühlte, konnte es kaum mehr werden.

„Einen Doppelten!“, bat er.

Man sah ihn an, den Mund verkniffen, aber ohne Keifen.

Auch das wäre ihm egal gewesen.

Er nahm die Blume. Der herbfrische Duft überreifer Himbeeren huschte in die Nase. Ein erstes Schlückchen umbrannte die Zunge; reizte den Gaumen; kam in die falsche Kehle; Husten; Schmerz; Welle um Welle.

Jobs Gesicht rötete sich; -‚vom Saufen‘, sagte ihr Blick; – wurde blass; -‚verträgt halt nichts’ ihr Blick; – wieder rot, -‚geschieht ihm recht!‘ Blick -!

Jemand klopfte ihm auf den Rücken. Husten; Schmerzen; Wogen; Würgen.

Man erhob sich; entfernte sich; distanzierte sich; vor aller Augen.

Der Husten ließ nach; die Schmerzen; das Wallen; Luft kam in die Lungen.

Job nahm den feinen Duft wieder auf; den Duft nach Hochwald; Julihitze; Himbeeren; heiße Himbeeren; so wie Himbeeren duften, wenn sie am Stock von der Sonne verkocht werden. Er griff nach dem Glas, stürzte es hinab, ließ Schlund und Kehle brennen. Wärme stieg auf. Augen, Ohren, alle Sinne begannen wahrzunehmen. Der Anfall schien vorüber zu sein.

Einige der Gäste begannen, sich die Füße zu vertreten. Gruppen bildeten sich, Männer zu Männern, Frauen zu Frauen. Job nahm seinen Kaffee, goss ihn dem Philodendron in der Ecke an die Wurzeln.

Günther trat zu ihm, was ihn freute, weil er ihn gut leiden konnte; schon immer; ein einfacher Mensch; mit klaren Vorstellungen; kein Wenn; kein Aber; mit beiden Beinen auf dem Boden

„Bist du krank, Joachim?“

„Ja.“

„Man sieht’s.“

„Schade.“

„Mach dir nichts draus, denen ist es so und so gleich.“

„Danke.“

„Magst noch `n Schnaps?“

„Mögen schon, aber ich muss fahren.“

„Verstehe ich. Mich hat man auch dran gekriegt.“

„Ich soll sowieso noch nicht.“

„Manchmal ist ein Schnaps die erste und die letzte Hilfe.“

„Aber du verträgst doch nichts, das hast du mir selbst gesagt.“

„Na und?“

„Ist dir was?“

„Das fragst du noch, bei der Sippschaft hier?“

„Wieso? Alles ist doch ein Herz und eine Seele?“

„Man merkt, dass du nur selten hierher kommst.“

„Wieso?“

„Alles Theater!“

„Alles?“

„Zumindest auf unserer Seite. Der Seite meiner Lieben, muss ich sagen. Ich bin ja auch nur drangeheiratet. Dahinter gucken musst du!“

„Na, rede schon!“

„Tilde. Das hast du selber gemerkt.“

„Ja,“

„Und Ursel? Schau, wie die strahlt, obwohl ihr Hermann auf Dienstreise ist. Weißt du wo?“

„Nein.“

„In einer eigenen Wohnung. Aber Pst!“

„Ja, – und deshalb ist die so fröhlich?“

„Alles Theater!“

„Wirklich?“

„Auf unserer Seite bestimmt!“

Günther begann zu erzählen. Da er wirklich nichts vertragen kann, hatte der Schnaps ihn redselig, seine Sprache jedoch schlierig gemacht. Job bemühte sich zwar, genau hinzuhören, aber da jemand am Tonband gespielt hatte, gellten die Jodler durch den Saal und töteten jede Unterhaltung.

Plötzliche Stille. Das Gerät war abgeschaltet. Evelyne, die Älteste des Jubelpaares, rief die Gäste zusammen, trat in die Mitte des Saales, sprach ein paar Worte, Glückwünsche an die Eltern, präsentierte das Geschenk, das die Kinder sich ausgedacht hatten: Eine Bauernkapelle aus dem Allgäu, Vater, drei Söhne, zwei Töchter, die Mutter hatte müssen daheim bleiben, weil eine Kuh vorm Kalben stand, weshalb die Attraktion, das Hackbrett, ausfallen musste.

Trotzdem, viel Vergnügen!

Die beiden Alten schienen gerührt zu sein, die Gäste spendeten Beifall, in Job fraß sich Entsetzen, zu Unrecht, denn die Musikanten spielten gut, fleißig, gekonnt, vor allem dezent. Der Klarinettist erwies sich als ein exzellenter Solist. Von Beruf Kraftfahrer; Kiesbomberpilot, wie er in einer Pause erzählte. Schule war nichts, wovon? Berufsmusiker? Kies war sicher, gebaut wurde immer. Und wenn kein Kies verlangt war, fuhr er anderes, Müll, zum Beispiel.

Ein Marsch klang auf, dann ein Tusch. Beifall. Stühlerücken. Glas klingelte gegen Glas.

„Jetzt kommt’s!“

„Pst!“

„Ruhe dort hinten auf den billigen Plätzen!“

Eine hohe Gestalt trat in den Kreis, verneigte sich, begann Worte zu setzen. Job amüsierte sich. Seit er zur Familie gehörte, war dies die Stunde des ungekrönten Königs der Sippe, des Herrn Regierungsrates und einzigen Akademikers der mittleren Generation; des ersten Studierten, den das Dorf hervorgebracht hatte; Vorbild in Kleidung und Auftreten; in Sprache und Urteil; in den Tischsitten. Ihm oblagen die gesellschaftlichen Pflichten, vornehmlich die zu redenden Reden. Bestimmt hatte er am anderen Ende der Tafel das ganze Band seines Vorbildseins abgespielt: wie man Mitgäste begrüßt; wie man dem Jubelpaar seine Glückwünsche auszusprechen habe; wie man die Tasse hält; wie man zurückhaltend reichlich Kuchen kostet; wie man nachher ein Tänzchen wagen könne; wie man seiner Dame beim Platznehmen den Stuhl vorsichtig beischiebt und nicht in die Kniekehlen rammt.

Job hatte nichts gegen den Herrn Renommierrat einzuwenden, es war der Ernst, mit dem jener seine Vorbildlichkeit allkundig machte und der zum Spott reizte. Der Redner sprach gut, daran war nichts zu deuteln, verflocht geschickt Erlebtes und Erhofftes, Wahres und gerne wahr Gewesenes zu einem feinstrukturierten Wortteppich. Sein hoher Wuchs, die dunkle Stimme, das Bestimmte in der Sprache erzwangen andächtiges Zuhören.

Die Wörter plätscherten, dann kamen gute Wünsche für das nächste Halbjahrhundert, eine poetische Schleife drum herum, Verneigung, Schluss.

In die sich gehörende Schweigeminute nach der Rede klang Onkel Ottokars Trompetenstimme:

„Joachim, ist das wahr, du hast deinen Doktor noch gebaut?

Stille.

Ein gezischeltes „Halt den Mund!“

Räuspern.

Gemurmel.

Die meisten Gäste bemühten sich, nicht zu Job hinzuschauen.

Beifall blieb aus.

Niemand hätte so recht gewusst, wem er hätte gelten sollen.

Die Jubilare blickten böse.

Der Herr Rat ging langsam zu seinem Platz.

Verlegenheit.

Getuschel.

Gerede.

Die Musik spielte einen Tusch, leitete zu einem Rheinländer über.

Man setzte sich wieder ihm gegenüber; irritiert wegen der unerwarteten Wendung; war er’s doch noch nicht ganz richtig, weil die Urkunde noch fehlte; da redete man doch noch nicht davon; aber vielleicht konnte man doch noch ein bisschen stolz sein; später, falls er die Urkunde doch noch bekommt.

Job konnte ihr an der Nase ablesen, was sie dachte. Stolz sein; nicht auf die Leistung; darauf, ihn eingefangen zu haben; mehr zu sein als die anderen in der Familie; zu zeigen, dass es einem von ihrer Seite gelungen war, einen so hohen Rang zu erreichen; Ehre färbt ab; da schadet es auch nichts, dass er nicht aus dem Dorf stammte; er hatte eingeheiratet, das war schon was; hatte außerdem nach der Hochzeit eine Weile hier gewohnt; er war wer; einer der ihren; er war unser Doktor.

Job wurde erneut übel bei dem Gedanken

Günther trat an den Tisch, der einzige, der ihm spontan gratulierte, aufrichtig, ohne Neid. Und Tilde. Sie stand plötzlich neben seinem Stuhl, beugte sich nieder, so dass er in ihren Ausschnitt sehen musste, rief: „Herzlichen Glückwunsch“, küsste ihn, drückte ihre Zunge in seinen Mund, die wie eine fette, raue Kröte seinen Gaumen umfuhr.

Job wurde noch übler.

Gegenüber war man am Explodieren.

Tilde trat zurück, lachte, packte Günther am Arm und zog ihn mit zum Nebenzimmer.

Von der anderen Tischseite schrillte Tante Kathis Stimme:

„Muss ich jetzt `Sie‘ zu dir sagen?

„Das brauchst du bestimmt nicht!“ nahm man ihm die Antwort ab.

Das Kribbeln kam wieder. Druck im Augenwinkel; Klopfen in der Schläfe; verschwimmende Sicht. Aber das Ohr wurde hell; scharf; trennscharf. Ihm schien, als könne er alle Gespräche im Raum gleichzeitig verstehen, so als hätte er drei, sechs, ein Dutzend voneinander unabhängiger Gehöre.

Evelyns Stimme drang durch.

Die Antwort der Alten, leise, dennoch so klar verständlich, als säße er gegenüber.

„Das geht doch nicht!“

„Wer hat es angeregt?“

„Sie selbst.“

„Oh Gott! Oh Gottohgott!“

„So dick haben wir es alle nicht, dass wir ihren Anteil einfach übernehmen könnten. Aber wir dürfen sie auch nicht im Stich lassen.“

„Mir hat sie gesagt, sie bekäme genug von ihm.“

„Keinen Pfennig, bisher.“

„Aber sie muss doch leben!“

„Unsere Ursel findet immer einen Weg.“

„Ruhe jetzt!“

„Das nutzt uns nichts, wir müssen die Musik heute bezahlen.“

„Wann hat sie es gestanden?“

„Vorhin. Sie hat nur noch ein paar Mark und das Konto bleibt vorerst gesperrt.“

„Hat er eine andere?“

„Vielleicht.“

„Oh Gott, mein Mädel!“

„Guck nicht so ernst, Mutter! Lachen!“

„Ich heule gleich!“

„Verdammt, dann heule so, als ob du dich freust!“

„Das löst unser Problem nicht, Vater. Wir können den zusätzlichen Anteil nicht aus dem Ärmel schütteln. Wer nimmt denn so viel Geld mit, wenn er eingeladen wird?“

„Wo ist die Ursel?“

„Weg.“

„Was? Weg? Oh Gott, sie wird sich doch nichts antun!“

„Sie ist zu Günthers Schwester rüber. Mit der ist sie in letzter Zeit ganz dick befreundet.“

„Evi, geh‘ und sage den anderen, dass ich alles regeln werde. Ich gebe einen Scheck.“

„Ja, Vater. Ich könnte den Banditen umbringen!“

„Kind, Kind, versündige dich nicht!“

„Ja, Mutter. Aber muss der euer Fest kaputt machen?“

„Geh‘, Evi, wir haben schon Schlimmeres miteinander durchgefochten. Nicht umsonst hat es so lange gehalten mit uns.“

„Ja, Vater. Da, nimm schon mal den Umschlag mit meinem Anteil.“

„Oh Gott! Evy! Ursel! Kind!“

„Lach‘ jetzt, Mutter, verdammt noch mal!“

Obwohl Job dieses hastige Geflüster am stärksten bewusst ward, blieben ihm noch weitere Fetzen von Gesprächen haften, Witze der Männer, Tratsch der Frauen, ödes Geplapper der Jüngeren über Tennis und Fußball, Blousonmode und Indioschmuck. Dazwischen erstes Murren, weil es so lange mit dem Essen dauere.

Die Kapelle spielte einen Walzer. Einige Paare tanzten. Onkel Ottokar kam angeschlürft; stellte sich vor die Musikanten; dirigierte. Dunkler Anzug; weiße Handschuhe; starre Augen; unkoordinierte Bewegungen; ein Gespenst in der einsetzenden Dämmerung. Die Spielleute traten verunsichert zurück. Ottokar grinste, fletschte mit den Zähnen und zwinkerte dabei Job heimlich zu.

Kinder kamen hereingestürmt, schoben Stühle aufs Parkett, einen Tisch. Onkel Fritz ward angesagt, der Zauberer Schwuppdiwupp. Die Halbwüchsigen schleppten Kisten und Kasten herbei. Die Erwachsenen diskutierten, ob Friedrich endlich einen neuen Trick erlernt habe oder ob er das seit dreißig Jahren bei allen Familienfesten gezeigte Programm unverändert präsentieren würde, samt der regelmäßigen Pannen an immer den gleichen Stellen.

Friedrich brachte Neues. Zum Vergnügen der Kinder und zur Schadenfreude der Erwachsenen missrieten ihm dafür Tricks, die er früher beherrscht hatte. Das Glas, das er zerstampfte, zerfiel tatsächlich zu Scherben, die weiße Taube flog drei Runden durch den Saal und dann zum Fenster hinaus ihrem Schlag zu. Aus Ärmel und Zylinder schlupften die falschen Tücher hervor und das Karnickel verschwand nicht aus der magischen Kiste, sondern hoppelte mitten auf den Tisch und ließ der Natur ihren Lauf.

Der Beifall für diese Einlage wollte nicht enden.

Onkel Fritz schwor, nie wieder aufzutreten, die Halbstarken halfen beim Wegräumen, Suppenteller wurden hereingetragen, Vorboten für das Galadiner.

„Ah!“

„Endlich!“

„Gott sei Dank!“

„Wird auch Zeit!“

„Suppe am Abend? Schnecken wären mir lieber.“

„Oder Froschschenkel.“

„Elsässer Schnecken. Mit viel Knoblauch!“

„Damit du wieder stinkst wie ein alter Türke!“

„Kannst ja auf dem Kanapee schlafen.“

„Würde dir so passen!“

„Kinder, seid friedlich! Früher wart ihr froh über trocken Brot.“

„Früher ist nicht heute.“

„Dreck habt ihr gefressen! Und jetzt Schnecken statt Suppe!“

„Gib die Teller weiter!“

Geschwätz; Geklapper; Musik; schmerzhaftes Kribbeln; eine Wand; Dunst; Watte; Dunkelheit.

„He, Job, warum wackelst du so? Du bist ja ganz weiß im Gesicht! Ist dir nicht gut?“

Er riss sich zusammen. Von gegenüber wurde unmutig gefragt:

„Müssen wir vielleicht heim?“

Wieder Dunkelheit; Schlieren; Kälte in den Zehen; im Fuß; Kribbeln, die Zunge schwer; taub. Jemand hielt ihm einen Schnaps hin. Er trank hastig. Blut strömte; Wärme; Helligkeit; Klarheit; Befreiung vom Druck.

Wieder von Gegenüber:

„Soll vielleicht ich heimfahren, mit drei Vierteln im Bauch? Das erlebst du nicht! Aber sauf‘ nur Schnaps! Das soll gut sein! Außerdem ist es nicht mein Führerschein!“

Was war ihm das alles so gleichgültig!

Er erhob sich, trat auf die Terrasse hinaus. Statt Tageshitze angenehme Kühle. Kinder rannten über den gepflegten Rasen, hinter den Hecken hörte er Flüstern, Kichern, ein `Au‘! Von der Gegenseite kam Tilde um die Ecke, erhitzt, das Haar verwirrt, die Bluse verschoben. Sie winkte ihm zu, als wollte sie sagen: ‚Gleich bist du wieder dran!‘

Ein Schnauben am Ohr.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass man neben ihn getreten war.

Job musste lächeln. Diese Tilde schien für sie zum Problem zu werden. Er glaubte nicht, dass sie eifersüchtig war, ihr passte nur nicht, dass jemand ihr Eigentum bedrohte. Sie packte in am arm und führte ihn zu seinem Platz am Tisch.

„Setz‘ dich!“ befahl sie, „Und trinke nichts mehr, du musst fahren!“

Im Saal wurde die Suppe aufgetragen. Einige begannen sofort zu löffeln, andere warteten vornehm. Tante Emma kreischte:

„Esst doch! Esst! Sonst wird ja alles kalt!“

Job kostete lustlos, ohne Appetit, ohne Geschmack im Mund. Die Wirkung des Alkohols ließ schon wieder nach.

Tellerwechsel; Salate; Bratenschüsseln; Pommes frites; Kartoffelbällchen; Croquettes; Knöpfe öffnen; Gürtel lockern; Krabbencocktail, den man vergessen hatte, als Hors d‘ œuvres aufzutragen; Gemischter Braten; Nudeln; Spätzle; Gemüse; Haften aufnesteln; Braune Soße; Helle Soße; Tafelmusik.

Die Alten suchten sich die fettesten Stücke aus, als müssten sie die schlechten Zeiten nachträglich ausgleichen.

„Die Mundwinkel müssen glänzen, sonst taugt’s nichts, das Fleisch!“

Die Kinder schoben halbvolle Teller vor sich herum, lustlos, übersättigt.

„Nach Afrika müsste man euch jagen, damit ihr lernt, was Hunger ist!“

Die Jungen entfernten sorgfältig jedes Fettfäserchen vom Braten.

„Trocken muss es sein, das Fleisch, dann nur hast du den Kaugenuss!“

Halbleere Platten wurden zum Aufwärmen weggebracht, übervolle frisch herangeschleppt. Die Gereiztheit von vorhin war der alten Lustigkeit gewichen. Das unvermeidliche Eis kam, Licht verlöschte, heiße Kirschen, heiße Himbeeren wurden flambiert, das diffuse Blau der Flammen zuckte über feiste Gesichter.

Hieronymus Bosch!

Geisterbahn!

Hatte er es laut gesagt?

Man sah ihn an; die Lippen gepresst; scharfe Falten rechts und links; die Nüstern gebläht.

„Geh‘ doch heim! Verschwinde! Ich bleibe da! Ich kann hier übernachten!“

Hass und Trotz!

Erneut Schnaps über die Früchte. Blaues Licht zuckte auf, zerfratzte ihr Gesicht.

Job erhob sich, wollte ein Stückchen laufen, sich dann ein Taxi nehmen.

Im Dunkeln auf der Terrasse wartete Tilde.

Er drehte wieder um, setzte sich an das andere Ende der Tafel, zu Günther, der den Kopf an die Wand gelehnt hatte und mit offenen Augen vor sich hin schnarchelte.

Überall Behagen; Rülpsen; Zigarren; Zigaretten. Der Herr Rat rauchte Pfeife. Mit ihm war eine Verwandlung vorgegangen. Was er in früheren Jahren nie getan hätte, zeigte er heute wie selbstverständlich; seine Jacke war über die Stuhllehne gehängt, die Weste geöffnet, die Krawatte gelockert, er übte das gerade noch zulässige Lümmeln, zeigte, dass er dazu gehörte, einer der ihren war, trotz Position und Immer-Vorbild-Sein, auch ohne promoviert zu sein. Job mochte jetzt der andere sein, der, dem man distanziert zu begegnen hatte. Keiner von uns, nur angeheiratet.

Es wurde erneut getanzt. Ursel war da, tat, als wäre sie nie weg gewesen. Tilde kam, stellte sich schräg gegen das Licht; zeigte, dass sie nichts mehr unter der Bluse trug; winkte; bat um einen Walzer; war enttäuscht, weil er ablehnte; schürzte die Lippen; zeigte Verachtung wegen seiner Schwäche; wegen der Schwäche, die sie heute gar nicht gebrauchen konnte. Es war ihr Instinkt, der ihr sagte, sie könnte Chancen haben.

Im Saal war plötzlich Spannung; Nervosität; Missbilligung; Feindseligkeit bei den Frauen; Zänkereien; Neugier bei den Männern. Das Toben der Kinder störte auf einmal. Kerstin wurde beschimpft, nicht, weil sie frecher als die andren gewesen, sondern weil sie Tildes Tochter war. Der Alkohol begann zu wirken; anregend, aufregend; erregend. Masken fielen.

Unruhe auf der Terrasse. Die Türen wurden geöffnet. Fanfaren schmetterten. Dem alten Sportsfreund den Turnermarsch, der Braut Hoch Heidecksburg. Alles drängte nach draußen.

Die Jubilare freuten sich. Schnell wurden Biertische und Bänke aufgestellt, ein Fass herbeigerollt. Erinnerungen bei den Ganz Alten. Weißt du noch, vierunddreißig in Nürnberg? Und in Berlin, sechsunddreißig? Die Olympiade? Und wir waren dabei! Da waren wir wer! Damals! Auf, Leute! Alte Kameraden! Trompeten! Posaunen! Hörner! Trommeln! Wir halten zusammen! Kameradschaft! Treue! Wer kennt das noch?

Die Allgäuer Musikanten mischten sich unter die einheimischen Bläser. Kurzes Fragen, Nicken, die Instrumente hoch, von weitem ein Signal: Der Trompeter von Säckingen! Behüt dich Gott, es wär’ so schön gewesen! Die Post im Wald!

Job fühlte eine Hand auf der Schulter; Körperwärme; Tilde.

„Warum quälst du dich so herum?“

„Danke, es geht schon.“

„Warum nimmst du dir kein Zimmer, oben?“

„Danke, es geht.“

„Oder komm mit zu mir, dort hast du Ruhe.“

„Nein, danke. Ich möchte nur nach Hause.“

„Soll ich dich heimfahren?“

„Danke, aber ich kann ein Taxi nehmen.“

„Quatsch! Ich fahre gerne.“

„Ich weiß. Trotzdem …“

„Deine kann ja hier bleiben. Morgen zurückfahren.“

„Das wird sie nicht tun.“

„Grade wird sie es tun!“

„Meinst du?“

Drängen; Nähe; Wärme; Verlockung; Kribbeln; Taubheitsgefühl; Kälte; Ekel; Ekel vor Tildes Zunge; der Kröte; der rauen, schleimigen Kröte.

„Komm!“

Sie wiegte sich, drehte ihren Körper gegen das Licht, zeigte die Silhouette ihrer Brüste unter dem Gespinst der dünnen Bluse, wehrte irgendwelche Kinder ab, die sie irgendwohin schleppen wollten.

Job fühlte, dass man das Spiel beobachtete; irgendwo im Schatten stand; beobachtete; hasste; verachtete; ihn mehr als diese Tilde.

Der Saal füllte sich wieder. Die Nachtkühle trieb selbst Unentwegte in die miefige Wärme des Raumes hinein. Tilde verschwand. Man kam zurück, setzte sich gegenüber, wortlos, wütend, voller Abwehr.

Schweigen.

Stille im Lärm.

Überraschendes Keifen:

„Na, hat sie dich bald soweit?“

Da wurde ihm leicht zu Mute. Er lächelte:

„Sie ist eine von deiner Seite, vergiss das nicht.“

Stille im Lärm.

Schweigen.

Tusch auf der Terrasse, ein letztes Ständchen, die Instrumente wurden weggepackt, die Allgäuer spielten wieder alleine auf.

Das Parkett blieb leer.

Die Männer wiegten sich zu den Rhythmen, friedlich, faul, träge, versunken in behaglicher Trunkenheit, taub gegen die Aufforderungen der Frauen, sich zu bewegen, etwas gegen die Völlerei, die fetten Bäuche zu tun.

Halbwüchsige der Brautseite flirteten mit denen der Bräutigamseite, begannen zu schmusen, einzelne Pärchen verschwanden für einige Zeit in den Büschen, den Autos, den leerstehenden Zimmern des Hotels, in Betten, die Ältere schon Stunden früher zerwühlt hatten.

Tanten und Cousinen schleppten frisches Geschirr herbei. Kaffee muss sein vor Mitternacht! Kaffee und Kuchen!

Job wurde wieder schwarz vor den Augen; Kälte; Kribbeln; Schwanken.

Günther kam mit einem Doppelten Mirabelle.

„Da, trinke den, dann gib mir den Schlüssel. Ich fahre dich nach Hause und bringe den Wagen wieder zurück. Deine bleibt hier über Nacht, hat sie zu Kathi gesagt, falls überhaupt vor dem Morgen Schluss sein sollte.“

Wärme; Sommerduft; nach Mirabellen auf einer Wiese; Wespen summen; Gras; Heu; Friede.

Job schloss wieder die Augen. Ein weiteres Glas ward ihm gereicht. Ein anderer Duft. Tilde?

Gegenüber, der Platz war leer. Man war ärgerlich nach draußen gegangen, von draußen schlug Ärger in den Saal. Ärger, der nicht traf. Nicht mehr. Wichtig war das Glas; Himbeer; Himbeerduft; Geschmack; Gefühl; Brennen; Wärme; noch mehr Wärme; Erleichterung; Klarheit.

Der erneut fröhliche Lärm hatte die meisten Gäste noch einmal munter gemacht.

„Wer will richtigen Kaffee?“

„Für die Herzkasper gibt’s auch Zichorienbrühe.“

„Du wirst doch wenigstens coffeinfreien haben?“

„Haben wir alles.“

„Ich will nur noch ein Stück Kuchen,“

„Mir kannst du von jedem ein Riemchen geben.“

„Joooachiiim, alter Schlafkopf, was willst du für einen Kaffee? Oder säufst du nur noch Schnaps?“

Job schob das Glas von sich, reichte Günther den Schlüssel hin, ging schwankend zum Wagen, fühlte beim Einsteigen Blicke, verachtende, drohende, enttäuschte Blicke. Sie waren ihm gleichgültig. Gleichgültig wie die Personen, die sie ihn spüren ließen. Gleichgültig, wie ihm die ganze Sippe gleichgültig war.

Job stieg in das Auto. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet, gar sich für die Einladung bedankt.

„Heim, Günther. Nur heim!“

Fetzen des Triumphmarsches klangen herüber.

„Los! Auf! Zur Polonaise!“

Dann war nur noch das ruhige Surren des Wagens zu hören.

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