Dr. Wolfgang Hubach

Wir saßen im Garten beim Abendessen, als sie ankamen. Ein Händchen voll Weiblein, zappelig, wuselig, endlos plappernd, wobei die schwarzen Äuglein blitzschnell alles erfassten; ein Mann, nicht groß, aber breit, leicht vorübergebeugt, mit kräftigen Händen und tiefen, wasserblauen Augen, die über alles hinweg und alles hindurch zu sehen schienen; dazwischen, etwas hilflos, der Chauffeur, der ein Köfferchen aus dem Taxi hob und mindestens ein Dutzend bunte Plastiktüten.

Das Frauchen wusste nicht, wohin es sich zuerst wenden sollte. „Grüß Gottle“ zu uns, „Geld wellet se“ zum Fahrer, „Ernschdle, zahle misset mer!“ zu dem Mann.

„Siebzehnmarkfinfzig bloß zum Daherfahre? Davon kennet mer dahoim oin ganze Dag lebe und noch was spare. Ernschdle, soviel Geld, wo mir hätte laufe könne. Siebzehnmarkfinfzig! Hättscht bezahlt, Ernschdle? Noi, so ebbes, was wieder fer e Aufregung!“

Die Empfangsdame winkte dem Zimmerburschen. Gemeinsam dirigierten diese die beiden samt Taschenflut hinaus.

Da ich als einziger Gast alleine aß, wurden die beiden zu mir an den Tisch gesetzt. Ich stellte mich vor, was sie verwirrte. Die Frau deutete auf den Mann: „Des ischs Ernschdle“, auf sich: „I bins Mariele“, und als wolle sie einer unangenehmen Frage vorbeugen, sagte sie: „Mir schmatzet net“. Dann holte sie aus einer Tüte eine Vesper heraus, war irritiert, dass ihnen serviert wurde. Sie packte Brot und Käse wieder ein und beide begannen ungeschickt mit Messer und Gabel zu hantieren, wobei sie sich bemühten, wirklich nicht zu schmatzen. Nur schlürfen taten sie, ihr Getränk, die Suppe, zum Schluss noch die Soße aus dem Teller.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, nach einer kurzen Anstandspause wegzugehen, nun aber war ich neugierig, wer die beiden wohl seien.

Ich erfuhr also alles, denn zwischen bald jedem Bissen ging das Mundwerk des Weibleins, zu mir, zu den Gästen am Nebentisch, zum Ernschdle vor allem, weil der Mann so schlecht höre, das Ohrgerät sei halt nicht vom besten, so dass er oft kaum etwas verstehe. Sie waren von der Alb. Ein bißle Landwirtschaft, nie genug zum Leben auf dem kargen, steinigen Äckerchen. Als Kind schon hatte sie dazu verdienen müssen. Und dann der Krieg und die Zwillinge und immer schlechter mit dem Bauersein. „`s Ernschdle ist schaffen gegangen, im Sommer Steine klopfen und als Pflasterer, im Winter ins Holz. Da war nie viel zum Kleben.“ Auch bei ihr nicht. Sie hat die Schule geputzt und das Gemeindehaus, als es das noch gab auf dem Dorf, aber da war sie selten angemeldet, und jetzt haben sie beide bloß ein bisschen Rente. Zum Glück hat der Mann das Taubohr von einem Arbeitsunfall, das gibt ein paar Mark zusätzlich. Immer haben sie geschafft, auf einmal war`s aus mit dem Ernschdle. Das Herz will nimmer so. Da hat der Doktor sie fortgeschickt, hat gesagt, ihr macht jetzt eine Kur miteinander, oder die Zwillinge erben bald. Uns so sind sie da. Der Tochtermann hatte alles gerichtet, den Zug ausgesucht, den Schaffner verständigt, die von der Bahnhofsmission haben beim Umsteigen geholfen, und jetzt sind sie so weit weg von daheim.

Zum ersten Mal!

Siebenzehnmarkfinfzig schon fort, ohne was dafür gehabt zu haben! Aber es war halt viel Zeug für die vier Wochen, wer will das alles schleppen? Sie hatte zwar gemeint, `s Ernschdle solle ein paar Mal laufen vom Bahnhof her, sie hätte die übrigen Gepäckstücke dann immer so lange bewacht. Aber das war nicht zu machen, wegen dem Herz. Siebenzehnmarkfinfzig!

So schwätzte sie in ein Loch hinein, ohne je eine Antwort abzuwarten.

`s Ernschdle beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Manchmal führte er die Hand zur Ohrmuschel, nickte, fingerte an seiner Hörhilfe herum, verstand nichts mehr. Es sah ganz harmlos aus, aber ich erkannte sofort, er schaltete je nach Bedarf das Gerät an oder aus, wohl eine Vorsichtsmaßnahme, um Ruhe zu haben. Mariele hatte das anscheinend noch gar nicht begriffen.

Die Tage vergingen, die beiden trabten brav zu ihren Anwendungen, sie mit ihrem Mundwerk vorne weg, er meist stumm hinterher. Dann, eines Morgens, beim Frühstück, ich kam gerade von den Massagen hoch, fiel dem Ernschdle der Kaffeelöffel aus der Hand. Nicht aus Unachtsamkeit, wie es schon mehrmals geschehen war, nein, irgendwie bedrohlich, endgültig.

Ernschdles Augen wurden starr, der Mund stand offen, langsam sank sein Arm herunter auf das Gedeck. Die Tasse kippte um. Braunsahnig floss der Kaffee über das Tischtuch.

Auch Mariele saß starr.

Starr und stumm.

Die Augen groß und erschrocken.

Einige Gäste sprangen hoch, teils hilfsbereit, teils hilflos. Ich rief die Nummer 112 an. Der Notfallwagen kam. Ernschdle wurde eingeladen, weggebracht zum Krankenhaus. Von Mariele war kein Ton gekommen. Keine Bewegung. Nichts!

Gäste bemühten sich um sie. Sie reagierte nicht.

Da nahm ich sie am Arm, zog sie hoch vom Stuhl und sagte: “Komm, wir gehen zum Ernschdle!“

Sie ließ sich die Jacke umhängen, zur Tür hinausgeleiten, schieben, als sei sie ein Automat. Und dann auf einmal, so auf halbem Weg, sprudelte es aus ihr heraus, was sie Jahre, Jahrzehnte in ihrem Herzen verschlossen hatte: `s Ernschdle war gar nicht `s Ernschdle, `s war der Jozepf. Jozepf sagte sie, mit ganz hartem z und pf. `s richtige Ernschdle war in den Krieg gegangen, nicht einmal zwanzig war sie damals gewesen, und hatte sie allein gelassen, mit dem Kühle und dem Äckerchen und den Zwillingen, die er nie hat sehen können, weil er nimmer heimgekommen war ins Dörfle.

Aber der Jozepf war da, aus Lemberg, wo jetzt die Russen sind. Der hat ihr geholfen, auf dem Feld und sonst und die Zwillinge großziehen. Zuerst haben sich die Leute die Mäuler zerfranst, aber `s Mariele hat das nicht berührt, denn für sie war der Jozepf `s Ernschdle, der sie so früh hatte alleinlassen müssen. Und die im Dorf haben`s irgendwann gelten lassen und so nach und nach auch Erschdle gesagt, und auf einmal war alles ganz einfach gewesen, denn er war ein guter Mensch, ganz gewiss, zum Kühle, zum Äckerchen, zu den Zwillingen, zu ihr.

Einen Schmetterling könne er streicheln, und das mit seinen Händen, so groß wie ein Rhabarberblatt.

Mein Gott, eine Onkelehe! Die nie legalisiert worden war, weil die beiden in diesem erbärmlich reichen Land auf das bisschen Witwenrente angewiesen sind.

Ich konnte es nicht fassen!

„Aber gell, sagete Se nix vor de Leut“, bat sie.

`s Ernschdle kam bald wieder zurück mit der strikten Anweisung, ihn in Ruhe zu lassen. Zum ersten Mal in ihrem Leben musste Mariele `s Göschle halten. Unbedingt!

Ich hatte mich mit den anderen Gästen abgesprochen, und alle halfen mit: Jedes Mal, wenn sie mit ihrem Geplapper anfing, zogen die, die um den Weg waren, einfach die Brauen hoch und schauten streng. Da erschrak sie dann und umsorgte ihn still.

Still, aber unermüdlich.

`s Ernschdle genoss die neue Situation. Geduldig ging er zu den Anwendungen, machte seine Spaziergänge, saß in der Sonne und genoss die ungewohnte Ruhe, vergaß sogar bald, zwischendurch das Hörgerät auszuschalten.

Einmal schaute ich von der Liegeterrasse hinunter in den Garten. Da sah ich, wie sich ihm ein Schmetterling näherte, auf sein Knie setzte. Behutsam hob Ernschdle die klobige, rissige, bereits gichtig verzogene Hand und streichelte das Tierchen, vom Kopf zum Körper hin, ganz langsam, ganz zart. Der Falter saß still, aber jedes Mal, wenn der streichelnde Finger zum Kopf zurückkehrte, klappte er die Flügel zusammen, als wolle er Danke sagen für die Zärtlichkeit.

Eine Stimme neben mir sagte: „Wäre ich eine Frau, gelb würde ich jetzt werden vor Neid!“

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