Die Zeiten, da sie in sich versank, wurden immer länger, die lichten Momente immer kürzer. Waren ihre Augen klar, war es auch ihr Geist und sie verfluchte das Heim, in dem sie seit kurzem leben musste. Senkte sich dann der Schleier über ihre Pupillen, war sie ruhig und zufrieden und ließ sich von den Pflegern willig betreuen.
Dann war sie eines Tages verschwunden.
Weggelaufen aus dem Haus draußen am Rande der Stadt.
Die Pfleger suchten sie, im Garten, im Wäldchen unten an der Straße, in den Maisäckern rundum, alarmierten die Polizei, die mit einer Hundestaffel anrückte – und sie suchten vergeblich.
Schließlich gab es einen Anruf. Ein Gartler aus der Laubenkolonie, Nachbar der Kranken seit Jahrzehnten, wusste, dass sie im Heim sein sollte und verständigte deshalb die Polizei, als er sie auf ihrem Grundstück sah.
Die Pfleger fanden sie in dem Schrebergarten, der schon den Großeltern gehört hatte und den heute ihr Sohn pflanzte. Der Sohn, zu dem es nie einen Vater gegeben hatte.
Sie stand unter einem mächtigen Nussbaum und sagte immer vor sich hin: „Hier liegt mein Hund begraben!“
Dann senkte sich der Schleier über die Augen und sie ließ sich willig wegführen.
Trotz aller Überwachung gelang es ihr immer wieder, aus dem Haus wegzulaufen. Die Heimleitung hätte sie gerne in die geschlossene Abteilung verlegt, der Sohn war jedoch strikt dagegen. Da aber die Pfleger wussten, wo sie suchen mussten, war außer Zeit nicht viel verloren.
Was auffiel, war ihre stete Behauptung, unter dem Baum sei ihr Hund begraben.
Einem jungen Polizisten, der bei der ersten Suche dabei gewesen war, ließ diese Aussage keine Ruhe. Er wusste von seiner Großmutter, die ebenfalls an der Alzheimer Krankheit litt, dass solche dauernd wiederholte Behauptungen einen wahren Kern hatten. Er hörte sich ein bisschen um und erfuhr von dem Gartennachbar, dass der Bräutigam der alten Dame sie habe sitzen lassen, als sie schwanger geworden war.
Eines Tages suchte der Beamte im Archiv nach Unterlagen und stieß auf eine Suchmeldung. Ein gewisser August Hundt war vor Jahren spurlos verschwunden. Ein Vergleich der Daten zeigte, dass er 8 Monate vor der Geburt des Sohnes untertauchte und dann nie wieder gesehen ward.
Der Beamte erwirkte eine Grabung unter dem Nussbaum. Dort fand man ein Skelett, den Knöpfen nach, die nicht verrottet waren, das eines Mannes. Während die Polizei grub, erschien plötzlich die alte Dame.
Sie hatte keine Bedenken, zu erzählen, was damals geschehen war.
Ihr Freund hatte nichts gewusst von der Schwangerschaft.
Vielleicht deshalb, weil er sie satt hatte, vielleicht deshalb, weil ihm ihre Schwester besser gefiel, auf jeden Fall erwischte sie die beiden in einer eindeutigen Pose. Deshalb ergriff sie den Spargelstecher, der in Grase lag, und stach zu.
Der Mann war sofort tot gewesen.
Aus Angst vor der Polizei schaufelten die beiden Schwestern schnell eine Grube aus, legten den Toten hinein und pflanzten einen Nussbaum, denn sie wussten, auf totem Fleisch wuchs ein solcher besonders schnell.
Und die Betrogene vergaß nie, dass dort ihr Hundt begraben lag.
Sie erzählte das alles mit wachen Augen und ohne zu stocken und präzise bis in das kleinste Detail.
Die Staatsanwältin forderte die sofortige Verhaftung.
Der junge Polizist schüttelte den Kopf.
Niemand würde die alte Dame je einsperren, denn der Schleier war wieder über ihre Augen gefallen.
Sie war in ihre Welt des Vergessens zurückgekehrt, in die ihr niemand folgen wollte.
Niemand auf dieser Welt würde sie zur Verantwortung ziehen.
Nur der liebe Gott würde sie richten – oder auch nicht.