Sie öffnete die Tür zur Telefonzelle und sah oben auf dem Wählerkasten die Brieftasche liegen. Sollte sie nachschauen, wem sie gehörte? Vielleicht kam der Eigentümer gleich zurück, dann würde er sie für neugierig halten. Vielleicht aber hatte er den Verlust noch gar nicht bemerkt, dann war es ihre Pflicht, die Fundsache abzugeben. Oder suchte er vielleicht schon nach seinen Papieren, ohne sich zu erinnern, wo er sie verloren haben könnte? Von draußen wurde an die Tür geklopft.
„Warum wählst du nicht?“
„Mutti, hier, die Brieftasche.“
„Wem gehört sie? Hast du nachgesehen?“
„Nein. Ich weiß nicht.“
„Gib her!“
„Aber Mutti, vielleicht sucht sie der Herr schon.“
„Lässt du sie liegen, kommt bestimmt ein Ganove und raubt sie aus. Also, gib her!“
„Ja, Mutti, bitte.“
„Und rufe endlich durch und melde, dass wir gut angekommen sind!“
Während die Tochter wählte, inspizierte die Mutter routiniert die Fundstücke, klappte dann die Tasche zu und befahl:
„Komm mit, wir versuchen es später wieder!“
„Ja, gleich, es ist zu der Zeit sowieso nicht durchzukommen.“
„Dummes Zeug! Du drückst die Tasten wieder nicht fest genug. Los jetzt!“
Die beiden gingen zu ihrem Hotel. Im Zimmer angekommen, begann die Suche nach dem Verlierer. Über die Privatnummer, die sie auf der Visitenkarte gefunden hatte, erfragte die Tochter die Urlaubsadresse, bat dort den Mann an der Rezeption, den Herrn zu verständigen. Der Überraschte versprach, sofort zu kommen.
Die Mutter hatte derweil systematisch alle Papiere, den Pass, den Führerschein, eine Telefonkarte, das Adressbuch, den Terminkalender, diverse Zettel, das Innenfach mit den Schecks und dem dort versteckten Hunderter kontrolliert.
„Das Zeug gehört vermutlich einem Chemiker. Scheint mir ein unruhiger Kerl zu sein. Hat Adressen aus der ganzen Welt notiert. Und schau dir den Pass an! Stempel bis nach Australien runter.“
„Mutti, bitte, du kannst doch nicht einfach so urteilen! Vielleicht ist er ganz anders.“
„Sei still, du hast keine Erfahrung. Er wird schon ein rechter Windhund sein. Vermutlich hat er mit einem der vielen Weiber telefoniert, die er so akkurat notiert hat. Hier, stopfe alles wieder rein, bevor er aufkreuzt, sonst glaubt er am Ende noch, wir seien Diebe!“
Sie fuhren nach unten, setzten sich auf die Terrasse, bestellten einen Campari für die Mutter, ein stilles Wasser für die Tochter und warteten.
Der Verlierer kam angehetzt, salopp gekleidet, den Pullover über die Schultern geworfen.
„Schlamper!“, urteilte die Ältere.
„Pass´ auf, das ist er!“
Der Portier führte den Herrn zu ihrem Tisch. Die Jüngere erhob sich, eine aparte dunkle Schönheit Anfang 40.
„Guten Abend“, grüßte sie. „Einen Augenblick, bitte, ich muss Ihre Brieftasche aus dem Zimmer holen.“
Da er nicht wusste, ob die Ältere dazu gehörte, grüßte er auch sie, wandte sich aber sofort um und schaute der Jungen nach, die nicht den Fahrstuhl, sondern die Treppe benutzte. Sie hat einen verlockenden Gang, dachte er. Unwillkürlich machte er einige Schritte nach vorn, blieb dann aber stehen. Obwohl er sich nicht umdrehte, fühlte er, dass die Alte ihn musterte und nicht mochte. Da er ihr nicht vorgestellt worden war, sah er keinen Grund, sich ihr zu widmen.
Die Jüngere kam rasch zurück, bat um Entschuldigung, sie habe den Schlüssel vergessen, hetzte noch mal nach oben, brachte ihm die Brieftasche, hielt sie ihm geöffnet entgegen.
„Bitte schauen Sie nach. Wenn etwas fehlt, dann nicht durch uns. Übrigens, das Geld steckt im Seitenfach bei den Visitenkarten.“
Ein Blick genügte ihm um zu sehen, dass die Tasche gründlich durchgewühlt worden war, weil kein Stück mehr an seinem alten Platz steckte; es schien aber noch alles vorhanden zu sein.
„Gnädige Frau, wie kann ich das wieder gut machen? Darf ich Sie morgen zum Essen einladen?“
Sie strahlte, ihre Augen gingen über seine Schultern hinweg, verschleierten sich. „Ja. Nein. Vielleicht. Vielen Dank, ich darf nur Diätkost essen.“
„Macht nichts, dann gehen wir eben in ein vegetarisches Restaurant.“
Ihre Augen wurden traurig.
„Nein, vielen Dank. Meine Mutter achtet sehr darauf, dass ich keine Ernährungsfehler mache.“
„Oder wenigstens zu Kaffee und Kuchen?“
Nun wurde sie abweisend.
„Nein, bitte, ich darf nur Kräutertee trinken.“
„Mein Gott, kann ich denn gar nichts für sie tun?“
Sie schaute zu der Mutter hinüber, zögerte und sagte sichtlich beschämt:
„Vielleicht können Sie mir die 1 Euro 70 für die Telefonate ersetzen.“
Darauf war er nicht gefasst gewesen.
Er zog sein Portemonnaie, starrte auf die Kreditkarten, suchte, fand in einem Fach einen Zwanzigeuroschein, schaute spöttisch zu der Älteren zurück und gab der jungen Dame das Geld mit der Bemerkung:
„So kann ich nicht davon kommen. Deshalb zunächst dies zum Dank. Ich werde mich wieder melden.“
Während des ganzen Gesprächs hatte er die harten Augen der Älteren im Rücken gespürt, die nach seiner letzten Bemerkung noch härter zu funkeln begannen. Warte, dachte er, dich kriege ich, alter Drachen! Während der nächsten Tage versuchte er mehrmals, die Tochter zu treffen, sie war nie zu sprechen. Da kaufte er einen großen Blumenstrauß und brachte ihn selbst in das Hotel, während der Mittagszeit, weil er glaubte, sie da sicher zu finden.
Er hatte jedoch Pech, die beiden nahmen an diesem Tag an einem Ausflug teil. Die Aushilfe an der Rezeption musste erst lange suchen, bis sie auf seine Bitte hin die Jüngere in ihrer Liste gefunden hatte. So erfuhr er ihren Namen, Christtrud.
Er schrieb einen kurzen Gruß und nochmals Dank auf eine Visitenkarte, heftete diese an das Bukett und bestand darauf, dass das Zimmermädchen es sofort nach oben brachte. Danach hatte er keine Gelegenheit mehr, die beiden noch einmal zu sehen. Dringende Geschäfte riefen ihn nach Hause.
Zwischen den zwei Damen gab es am Abend einen heftigen Disput. Die Mutter fand es unmöglich, dass der Kerl den Strauß nicht an sie beide avisiert hatte.
„Dass du mir den Hallodri nicht anguckst, falls er die Frechheit besitzt, uns noch einmal zu belästigen!“ befahl sie. „So einer macht gleich schöne Augen, das kenne ich. Und dann will er mehr. Dafür habe ich dich nicht vor allem Übel bewahrt!“
„Aber Mutti, vielleicht ist er ganz anders.“
„Schweig! Ich kenne auch deine Augen und ich habe sie gesehen.“
„Vielleicht, Mutti, will er wirklich nur seine Dankbarkeit zeigen.“
„Schluss jetzt! Ich gehe zum Bridge. Du kannst mitkommen, du darfst aber auch im Zimmer beim Fernsehen bleiben. Aber schau dir was Ordentliches an! Verstanden?“
Die Mutter ging. Die Tochter suchte lustlos durch die Programme, kam in eine Aufzeichnung einer Theaterinszenierung. Ein alternder Musikus erzählte seiner Nachbarin, er habe seine verstorbene Schwester vor allem Bösen bewahrt, auch vor der Liebe.
Christtrud erhob sich, ging ins Bad, schaute im Spiegel nach den Fältchen um ihre Augen, die Furchen um ihren Mund, kramte ein Röhrchen mit einem Medikament aus ihrem Kosmetikkoffer.
„40 Tabletten!“ sagte sie zu ihrem Spiegelbild, „und vor der Liebe bewahrt.“