Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, nie mit einem Außenstehenden, aber jetzt bin ich der Letzte und mit mir würde das Wissen für immer verloren gehen.
Sie fragen sich, wieso wir damals studieren konnten, wo selbst Kinder an die Front mussten?
Wir waren alle blessiert, schwerstverwundete Überlebende, für immer kampfuntauglich.
Und wir mussten hier bleiben.
Die meisten Professoren hatten sich kurz vor Ostern aus dem Staub gemacht, waren nach Prag geflohen.
Dabei war Examenszeit.
Eine Studentin, Hedel hieß sie, glaube ich, hatte rechtzeitig davon erfahren und mit Kommilitonen einige aufgehalten und sie gezwungen, noch rasch die Prüfungen abzunehmen.
Die Professoren beugten sich, examinierten sogar die Nacht hindurch, streng wie in Friedenszeiten, die Protokolle sind erhalten.
Sie stellten auch noch die Zeugnisse aus, mit Stempel und Unterschrift. Datum 30. März 1945!
Der 30. März war Karfreitag.
Dann verschwanden auch sie, Richtung Speyerer Hof, weil die Amerikaner bereits im Neckartal standen.
Wir saßen alle im Kneipsaal und hörten im Radio, die Amerikaner stünden vor der Heidelberger Altstadt, wir, alte Burschen, die damals samt unserem Haus in die NS-Kameradschaft eingepresst worden waren, daneben einige Jüngere, die Bundesleben nur als Mitglied des NSDStB kannten.
Es war seltsam still in der Stadt, kaum einmal ein Schuss zu hören.
Auf einmal war Kettengerassel zu vernehmen.
Ein Panzer rollte die Schlossgasse hoch.
Das Ende nahte.
Wir hatten alle Tränen in den Augen.
Welche Hoffnungen, welche Ideale, aber auch welche Lasten gingen hier zu Ende.
Wir sangen noch einmal das Deutschlandlied, alle Strophen.
Das Horst-Wessel-Lied stimmten nur noch einige an.
Lediglich die Jungen hoben den Arm zum Gruß.
Wir, die Alten, waren in Zivil, die Jungen trugen die Studentenuniform, Braunhemd mit schwarzem Binder, schwarzer Stiefelhose, Schaftstiefel, den HJ-Dolch am Koppel.
Heiner kam herein, wir hatten gar nicht bemerkt, dass er fehlte beim Singen.
Heiner, der heute Geburtstag hatte.
Gerade einundzwanzig, gerade volljährig geworden.
Er trug seine Leutnantsuniform, die Orden an der Brust, Eisernes Kreuz, Verwundetenabzeichen, genau weiß ich es nicht mehr, seine Pistole am Koppel, den leeren Ärmel ordentlich in die Tasche gesteckt.
Der Panzer schien jetzt ganz nahe.
Heiner grüßte militärisch und verließ den Saal.
Unten klappte die Tür.
Schüsse fielen.
Das Kettengerassel hatte aufgehört.
Es war ganz still vor dem Haus.
Von der Ferne nur waren Panzer zu hören.
Einer von uns begann zu weinen.
Die Haustür wurde aufgebrochen.
Wieder Stille.
Amerikaner auf ihren Kreppsohlen hört man nicht.
Dann krachte die Saaltür auf.
Zwei große schwarze Soldaten, bis zu den Zähnen bewaffnet, standen im Raum.
Ein kleiner Weißer drängte sich herein.
Er sah uns und begann hysterisch zu lachen.
Wir saßen und standen herum.
Die Amerikaner konnten es nicht fassen.
Den einen fehlte ein Arm, anderen ein Bein, zweie hatten gar beide Füße nicht mehr.
Dazwischen wir Fratzengesichter.
Im Feldlazarett gibt es keine Schönheitschirurgen, dort wird zusammengeflickt, so gut es geht.
Hauptsache, du überlebst, so wie ich.
Ein weiterer Weißer kam herein, bellte einen Befehl und verschwand mit dem Kleinen.
Später merkten wir, sie hatten das ganze Haus durchsucht.
Draußen begannen die Ketten wieder zu rasseln, der Panzer schob sich weiter zum Schloss hinauf.
Die beiden Schwarzen angelten sich Stühle herbei und setzten sich, die Maschinenpistole im Anschlag.
Sie grinsten, ihre Zähne blitzten.
Einer holte Zigaretten heraus und bot sie herum.
Wir schauten uns an.
Wir, die halbverhungerten Zerrbilder der Herrenrasse, sollten von diesen wohlgenährten Untermenschen etwas annehmen?
Erst gab es Zögern, dann ein vorsichtiges Zugreifen Einzelner, dann ein hastiges, gieriges Grapschen nach dem Entbehrten.
In den Taschen wurde nach Streichhölzern gewühlt.
Der erste ungewohnte Duft nach süßen Zigaretten zog durch den Raum.
Die Schwarzen lachten laut über unsere Gier.
Ein Offizier erschien und befahl in einwandfreiem Deutsch, wir sollten den einarmigen Idioten ins Haus holen.
Ich ging mit nach draußen.
Wir packten den von Kugeln durchsiebten Heiner und trugen ihn in den Flur und bahrten ihn dort auf.
Ludwig, der einmal mit Theologie begonnen hatte, sprach ein Gebet.
Es war Karfreitag.
Wie der Herr waren auch wir, war unser Vaterland geopfert worden.