Dr. Wolfgang Hubach

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Lisa, und das wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich in die Schule zu kommen und lesen zu lernen, weil es glaubte, wer lesen könne, sei erwachsen und brauche vor niemand mehr Angst zu haben. Nicht einmal vor Nachbars Nico. Richtig lesen konnte der zwar auch nicht, aber Mädchen ein Bein stellen, damit sie hinfallen und weinen, das konnte er.
Dann war es soweit. Die kleine Lisa durfte an der Hand ihrer Mutter zum ersten Mal in die Schule gehen. Sofort begann sie, das Lesen zu üben. Im Deutschunterricht las sie Buchstaben, Wörter und Sätze, beim Rechnen Ziffern und Zahlen und beim Singen Noten und Pausenzeichen. Bald war sie in der Klasse im Lesen die Beste.
So wuchs das kleine Mädchen heran und las und las und vergaß alle Welt um sich. In der Schule, in der Straßenbahn, in der Küche, im Garten, auf dem Schulweg, ja, sogar mit der Taschenlampe unter der Decke im Bett wollte es immer nur lesen und lesen und lesen.
Am Anfang waren es nur Bücher, die Lisa lesen wollte. Dann folgten Zeitungen, dann Zeitschriften, dann Papas Geschäftsbriefe, dann Mamas Mädchentagebuch, kurz, alles, was ihr in die Hände kam. Dabei wurden ihre Augen immer größer und größer und nahmen bald das halbe Gesicht ein. Und je größer die Augen wurden, desto dicker mussten die Gläser in der Brille werden, weil sie immer schlechter sehen konnte.
Die Eltern waren deshalb ganz verzweifelt und da alle Ermahnungen nichts halfen, verboten sie dem Kind schließlich, überhaupt noch zu lesen.
Jetzt war Lisa ganz verzweifelt. Aber als es Nacht wurde und sie einschlief, hatte sie einen schrecklich schönen Traum. Sie träumte, sie könne Bücher auch essen, dazu brauche sie keine Augen. Als sie erwachte, schlich sie in die Küche, griff sich ein Kochrezept und – schwupp – war es verschlungen. Eigenartig, das Papier hatte fast keinen Geschmack und es lag auch nicht schwer im Magen. Da beschloss Lisa, ab sofort nicht mehr zu lesen, sondern alles Lesbare zu essen.
Von da an verschwanden erst lose Blätter, dann Briefe, dann Bücher, schließlich alles, was auf Papier gedruckt war. Mama, Papa, die Geschwister waren wütend, weil sie andauernd etwas suchen mussten, es aber nie mehr finden konnten.
Lisa schonte jetzt zwar ihre Augen, aber sie wurde immer dicker und dicker. Ihre Zähne wurden größer und ihr Mund wurde viereckig. Bald sah sie aus wie Papas Reißwolf im Büro. Und genau wie der verschlang sie Papier, Papier, Papier!
Nachbars Nico, dem Lisas Art, mit Büchern umzugehen, nicht verborgen geblieben war, stellte dem Mädchen auf ganz gemeine Art
ein Bein, daß es hinfiel und sich beide Knie aufschlug. Die anderen Kinder lachten. Niemand hatte Mitleid mit Lisa. Und als Nico anfing zu schreien: „Da liegt die Bücherfressmaschine!“ lachten die anderen Kinder noch viel mehr und schrien ebenfalls: „Bücherfressmaschiiiiine! Bücherfressmaschiiiiine!“
Die armen Eltern wussten sich bald nicht mehr zu helfen. Sie gingen mit Lisa zum Arzt. Dem fraß sie heimlich den Rezeptblock auf. Sie gingen mit ihr zum Pfarrer. Dort versuchte sie, wie eine halbfertige Predigt schmeckt. Sie gingen mit ihr in eine Klinik. Dort vernaschte sie die Fieberkurven.
Mit der Zeit verschlang Lisa alles, was ihr vor die Zähne kam und beschriftet war. Davon bekam sie manches Mal Bauchweh, zum Beispiel damals, als sie Mamas Schneidebrettchen nagte, nur weil darauf stand Metzgerei Bäcker. Krämergasse. Oder Omas Schneiderkreide, auf der Schneiderkreide stand, oder Papas Badeseife, auf der Badeseife stand.
Eines Tages entdeckte sie Großvaters Trinkbecher, auf dem stand:
OPAS SONNTAGNACHMITTAGDAHEIMBLEIBKAFFEETOPP:
Diesen schluckte sie auf einmal hinunter, weil sie fürchtete, erwischt zu werden. Der Bissen war aber endgültig zu groß gewesen. Das Kind bekam nicht nur Bauchweh. Nein! Sein Leib wurde ganz dick und heiß und musste operiert werden. Es ging zwar alles gut, aber Lisa war danach sehr schwach, viel zu schwach, um zu lesen oder gar Bücher zu essen.
Da lag sie nun und starb fast, nicht von der Operation oder vom Bücherfressen, wie ihr wohl glaubt, nein, vor lauter Langeweile!
Eines Abends kam die Märchentante, um den kranken Kindern ein bisschen die Zeit zu vertreiben. Jetzt, wo Lisa nicht mehr selbst lesen konnte, sondern zuhören musste, jetzt spürte sie plötzlich, wie wunderbar Geschichten sein können, wenn man sie nicht einfach verschlingt. Wieder zu Haus, begann sie, so wie früher, richtig zu lesen und sie ist jetzt glücklich und zufrieden dabei, und es macht ihr gar nichts mehr aus, wenn Nachbars Nico ihr nachruft: „Bücherfressmaschiiiiine!“
Lisa achtet es nicht, und die anderen Kinder finden das Geschrei nur noch langweilig.

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