Dr. Wolfgang Hubach

Professor Bouhm stand an der Kreuzung und winkte seiner Frau zu, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite darauf wartete, dass die Ampel auf Grün springen würde. Der Verkehr floss vorbei, ein Motorradfahrer drängte sich an der Bordsteinkante entlang, riss der Wartenden die Handtasche vom Arm. Dabei stürzte die Frau vor einen Wagen und wurde überrollt. Sie war sofort tot. Der Täter tauchte im Gewühl unter; er konnte von der Polizei nie ermittelt werden.
Bouhm rannte zwischen den sich chaotisch bewegenden Fahrzeugen über die Straße zur Unfallstelle. Irgendwelche Leute versuchten zu helfen. Polizei kam, verhinderte stur, dass der Mann zu seiner Frau vordringen konnte, sperrte die Kreuzung, um dem Notarztwagen den Weg zu bahnen, versuchte, die Neugierigen zu befragen – zehn Zeugen gaben ein Dutzend Versionen des Vorfalles zu Protokoll – und ließen die Tote abtransportieren.
Die nächsten Wochen liefen an dem Mann vorbei wie fernes Geschehen. Er war nicht fähig, etwas zu tun oder zu entscheiden. Die Kinder, die auswärts lebten, hatten die Formalitäten erledigen müssen, waren noch ein, zwei Tage bei ihm geblieben, hatten ihn dann aber alleine gelassen.
Und alleine und hilflos-verloren fühlte er sich auch. Sein kärgliches Frühstück, das er sich ungeübt selbst zubereiten musste, verlief täglich nach dem gleichen Ritual: Kaffee eingießen, in das vorgestrichene Brot beißen, das abgegriffene Zeitungsblatt des örtlichen Generalanzeigers vom Tage nach dem Mord aufnehmen und auf die reißerische Schlagzeile zu starren:

Raub mit Todesfolge! Ehefrau des ehemaligen Dekans der Technischen Universität, Prof. Bouhm, vor Auto geworfen! Jugendlicher Mörder unerkannt entkommen!

Dann griff er zu dem Blatt mit der Todesanzeige, dann zu dem mit der Danksagung, um anschließend den Tag in dumpfem Brüten zu verbringen.
Die Semesterferien gingen zu Ende. Prof. Bouhm fuhr zu seinem Labor, um sich wieder an die Arbeit zu gewöhnen. Sein Assistent surfte gerade im Internet. „Schauen Sie“, sagte er, „jetzt gibt es sogar schon Täterprofile im Netz, und unserer Polizei am Ort arbeitet noch mit Karteikarten.“
Ein Gedanke durchzuckte Bouhm, nahm Form an, wurde zur Aufgabe.
Von nun an saß er Tag für Tag am PC und arbeitete. Zunächst durchsuchte er alte Ausgaben des Generalanzeigers, die sich mit dem Geschehen in der Stadt befassten. Sorgfältig speicherte er alle Plätze, an denen in den letzten Jahren Raubüberfälle stattgefunden hatten und die Art, wie die Täter vorgegangen waren. Sehr schnell ergaben sich
Schwerpunkte, werktags zwischen halbfünf und halbsechs, samstags zwischen elf und eins vor dem Haupteingang des Kaufhauses, abends ab fünf zwischen den Wagen auf dem Parkplatz des Supermarktes draußen vor der Stadt, während des Hauptverkehrs an den beiden zentralen Kreuzungen und tagsüber ohne feste Zeiten in der Fußgängerzone. Es waren verschiedene Tätergruppen. Manche führten ihre Überfälle mit dem Motorrad aus, andere mit Rollschuhen oder, besonders
Kinder, zu Fuß. Die älteren Räuber trugen fast immer unauffällige schwarzgraue Kleidung, soweit diese überhaupt jemals beschrieben werden konnte.
Mit Hilfe der gefundenen Daten erstellte Bouhm ein Aktionsprofil und begann dann, alle kritischen Plätze zu beobachten, lernte die Typen erkennen und kam so dem harten Kern der Haupttäter immer näher, fand sogar die alte Werkstatt, in der die von ihm gesuchte Motorradbande sich traf.
Der Zufall half ihm entscheidend weiter. Beim Surfen im Netz stieß er auf eine Anleitung zum Bombenbau, in dänischer Sprache geschrieben, aber die hatte er als Kind im hohen Norden gelernt, und, er beherrschte sie immer noch.
Nächtelang arbeitete er in seinem Labor, macht Versuche mit Drähten, Uhrwerken, Zündern und Plastikmasse, bis er die richtige Kombination gefunden hatte. Daraufhin kaufte er in einer fernen Stadt eine Monteurtasche, präparierte sie, fuhr kurz vor Ladenschluss zum Supermarkt, nahm sich einen Einkaufswagen, ging in den Markt und versteckte sich für einige Zeit in der Toilette. Danach zeigte er sich ganz offen mit der Tasche, die er auffällig mit einem Hängeschloss verschlossen hatte. Damit lockte er einen der Gangster hinter sich her. Auf dem Parkplatz stellte er die Tasche sichtbar auf die Motorenhaube und schob den Einkaufswagen zurück. Inzwischen schnappte sich der Verfolger die Beute und verschwand zwischen den Autos.
Bouhm begann zu schreien, andere Käufer kamen angerannt, riefen nach der Polizei, versuchten, den aufgeregten Mann zu beruhigen, der plötzlich und anscheinend kopflos seinen Wagen startete, um den Täter zu verfolgen.
Auf der Straße fuhr Bouhm langsam bis zum Stadtrand, hielt auf einer kleinen Anhöhe, von der aus er die ausgekundschaftete Werkstatt beobachten konnte.
So nach und nach kamen die Bandenmitglieder zusammen, auch der Dieb vom Supermarkt. Dann erschütterte eine große Detonation die Luft. Bouhm startete und fuhr davon, ein Lächeln auf den Lippen.
Am nächsten Morgen setzte er sich, wie an jedem Tag, an den Frühstückstisch und griff nach den Zeitungen, änderte aber zum ersten Mal seit dem Mord die Reihenfolge, griff zuallererst zum neuesten Generalanzeiger und las die Schlagzeile:

Explosion in Werkstatt!
Vermutlich jugendliche Verbrecher jagten sich in ihrem Diebeslager selbst in die Luft!


Bouhme nahm das Photo seiner Frau vom Vertiko und sagte: „Martha, du bist gerächt.“
Dann las er den letzten Absatz des Artikels ein zweites Mal. Schon wieder hatte ein Inlinescater einer alten Dame in der Fußgängerzone die Einkaufstasche entrissen und war unerkannt entkommen.
Bouhme lächelte, setzte sich an den Rechner und analysierte, wer das gewesen sein könnte. Das eindeutige Täterprofil war schnell gefunden. Da schaltete er um zur Bauanleitung.

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