Dr. Wolfgang Hubach

Ich fahre mit Angela nach Ammerland. Es wird Herbst, früh schon dunkel. Windstille. Schatten. Die Hügel verschwimmen, erste Nebel tasten über das Land.

Angela fährt zügig, biegt zu früh von der Hauptstraße ab, kommt nach Leoni, muss, um einen Umweg zu vermeiden, die menschenleere Uferstraße benutzen und murrt vor sich hin: „Was willst du ausgerechnet heute in Ammerland, wo fast keiner mehr lebt, hier draußen, so spät im Jahr?“

Was wusste Angela von Ammerland?

Was von der Anmut des Sees, wenn die letzten warmen Sommertage in die ersten milden Herbsttage übergleiten?

Was von Amélie?

Was von dem, was vor einem Vierteljahrhundert hier geschehen, was nicht geschehen war?

Der Wagen rollt auf den Parkplatz gegenüber der Schiffslände. Der Fährverkehr ist bereits eingestellt. Kein Auto ist zu sehen oder zu hören. Die Häuser stehen dunkel. Das Wasser wirkt grauschwarz, schwarzgrau davor das Hotel.

Was aus Amélie wohl geworden ist?

Amélie im Ammerland.

Amélie aus Sèvres, zwischen Versailles und Paris gelegen.

Amélie, die nicht deutsch sprach, der Kellner, der weder Französisch noch Englisch verstand und der noch dankbarer war als sie, dass ich übersetzte.

Wir steigen aus. Erstes Laub liegt auf dem Weg. Kein Laut, der stört.

„Und jetzt?“

Ich nehme Angela am Arm. Wir schlendern zum Landungssteg.

Stille.

Von hier aus war ich mit Amélie bis nach St. Heinrich gewandert.

Amélie, die entzückt war über den Pavillon an der südlichen Seestraße, aus dem Geigenspiel erklang.

Amélie, die, wie ich, die Porzellanpapageien an der Freitreppe `scheußlich schön´ fand, – die ersten deutsche Wörter, die sie von mir zu übernehmen versuchte.

Amélie, die den beiden Kakadus am liebsten die bunten Früchte aus dem Korb stibizt hätte.

Amélie, die sich dann doch nicht traute, zu den zwei gefiederten Türwächtern hochzugehen, weil die Musik wie ein cordon sanitaire gewirkt habe.

Amélie, die es immer wieder dorthin zog, um sich verzaubern zu lassen.

Amélie, die Designerin an der Porcellainerie zu Sèvres.

Ich drehte mich zu dem Hotel um. Aus dem breiten Fenster im Erdgeschoss dringt fahlgelbes Licht. Dort muss der Speisesaal sein.

Viermal beim Frühstück, drei Abende beim Essen und einmal nach einem Spaziergang zum Pavillon hatte ich mit Amélie dort gesessen.

Wo war das alles geblieben?

Wo war die Heiterkeit des Sommers?

Wo waren die fröhlichen Menschen?

Wo waren Amélie und ihr Lachen?

Amélie, die einen alles vergessen ließ?

Angela zupft mich am Ärmel.

„Was ist jetzt?“

Ich zeige vage umher, erzähle, dass ich vor Jahren einige unvergessliche Tage hier verbracht hatte, dass ich versuchen wolle, sie in die Erinnerung zurückzuholen. Angela in ihrer praktischen Art zieht mich zum Fenster und meint: „Na, dann guck halt mal rein!“

War damals das Licht im Haus auch so düster gewesen?

Damals, am dritten Abend, als Amélie mir einen letzten Kuss gegeben hatte, bevor sie in ihr Zimmer zurückgehuscht war?

War mir deshalb Helle im Gedächtnis geblieben?

Hinter dem Fenster sind einige Gestalten zu sehen, anscheinend alles Frauen. Sie schieben Bissen um Bissen in die Münder, die sich öffnen und schließen wie die Fischmäuler der Barben im See, so zwanghaft und so stumm.

Angela schüttelt sich.

Ob Amélie auch je so werden, so aussehen würde?

Amélie mit ihrem rotblonden Haar?

Amélie mit einer Haut, glatt und zart wie Porzellan aus Sèvres?

Amélie, von der ich nie wieder etwas gehört, die ich nie wieder gesehen habe?

Die Dame, die mit dem Rücken zum Fenster sitzt, dreht sich um. Graues Haar über scharf gefälteltem Gesicht. Leere Augen starren mich an, ohne mich zu sehen da draußen in der Dunkelheit.

Amélie!

Kein Zweifel, es ist Amélie!

Die brillantbesetzten Bourbonenlilien an ihrem Ohr gibt es kein zweites Mal!

Amélie!

Mein Gott, was ist aus dir geworden?

Und was suchst du hier, nach fünfundzwanzig Jahren?

Amélie, mon dieu!

Angela reißt mich fort.

„Komm, lass uns gehen, mir wird ja unheimlich! Schnell, oder ich gerate in Panik!“

Stumm marschier ich mit ihr zum Wagen, kann mich nicht überwinden zu Amélie hineinzugehen, sie zu begrüßen.
Wieder daheim, schaue ich in den Spiegel, betrachte die ergrauenden Haare, die gefurchte Stirn, die Augen, die gelegentlich schon einmal müde blicken. Mir wird zum ersten Mal bewusst, ich bin älter geworden.

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