Der Mann hackte mit dem Pickel je sechs Mal zu, ergriff die Schaufel, hob das gelockerte Erdreich aus der Grube, hackte wieder sechs Mal zu und griff erneut nach der Schaufel. Ein Streifenwagen fuhr rechts auf die Grasnarbe. Ein baumlanger Polizist stieg aus und lehnte sich über den Gartenzaun, schob seine Mütze hoch und meinte ganz überrascht:
„Jetzt guck mal da, der Förster-Franz. Hast du Urlaub?“
„Hallo, Norbert. Nein, ich kriege keinen Urlaub mehr.“
„Hast du’s geschafft? Ich muss noch gut zwei Jahre, dann aber ab an den Angelweiher! Und du, wirst du das Forsthaus jetzt verkaufen?“
„Im Gegenteil, ich ziehe hier ein.
„Du? Du Stadtmensch willst zurück in’s Dorf? Weg von Ludwigshafen, weg von Mannheim und Heidelberg? Wie willst du das denn überleben? Und Lore, geht die mit?“
„Lore ist tot.“
„Oh. Beileid. Was gräbst du denn da herum?“
„Unseren schönen Nussbaum haben sie umgemacht, um Platz für die Garagen zu schaffen. Jetzt will ich hier einen neuen setzen, aber beim Graben ist mir eine sonderbare Sache aufgefallen. Du weißt ja, wie wir sind. Wir müssen alleshinterfragen. Schau, hier war einmal eine Art Graben, ungefähr drei Meter lang, fünfzig breit, wie tief weiß ich noch nicht. Kaum einen Spaten tief bin ich statt auf gewachsenen Boden auf Füllmaterial gestoßen. Jetzt will ich wissen, was das zu bedeuten hat.“
Norbert lachte.
„Ja, ja, wer einmal Blut geleckt … …“
Franz warf noch rasch zwei Schippen hoch und stieg aus dem Graben heraus. Der andere reckte sich neugierig, schaute in das zuletzt gegrabene Loch und fragte:
„Was ist denn das, das da so blinkt?“
Ein Sonnenstrahl reflektierte einen rotgoldenen Punkt zwischen dem graubraunen Stein-Sand-Gemisch. Franz sprang hinab, wischte Erde beiseite und hielt einen Unterkiefer in der Hand.
Ein Toter!
„Hoppla!“ meinte Norbert „Das muss ich melden. Oder willst du mit ihnen reden?“
Franz schüttelte den Kopf.
Wer mochte da unten liegen, im Garten der Eltern? In seinem Garten? Und seit wann? In diesem seltsamen Graben? Mit einem Eckzahn aus Rotgold? Völlig ungewöhnlich. War es ein Ausländer? Von drüben, vielleicht? Ein Elsässer? Eher ein Lothringer, Elsässer tragen Weißgold.
Norbert hatte inzwischen die Zentrale verständigt:
„Schickt den ganzen Zirkus zum Forsthaus Fuchsloch. Dort liegt ein Toter im Garten. Aber Vorsicht. Das Haus gehört dem Kriminaldirektor Graichgauer. Ja, Franz Graichgauer. Immer noch. Euer alter Obergreifer Graichgauer, Ihr habt richtig gehört. Nein, nicht ich, er selbst hat ihn gefunden. Ja, ich habe abgesperrt, es kommt keiner ran. So, jetzt mal dapper, dapper!“
Die junge Polizistin, die bisher im Wagen geblieben war, holte Flatterband aus dem Kofferraum und begann, dieses um den Zaun herum und beidseitig bis zum Haus hin zu spannen. Norbert hatte sich mit Franz auf die Gartenbank gesetzt. Dort diskutierten sie, wer der Tote wohl sei und wie er in Graichgauers Garten gekommen sein könnte.
„Denk mal zurück. Ist der da rein gekommen, bevor der Krieg zu Ende war, kannst Du gar nichts davon wissen. Richtig? Dein Vater war damals noch beim Hauptforstamt. Richtig? Und ihr habt noch im Dorf gelebt, bei deiner Großmutter. Richtig? Dann erst ist er hier Förster geworden. Richtig? Und als dann die Verwaltungsreform war, ist das Revier aufgelöst worden und Dein Vater hat das Haus gekauft. Richtig? Und dann warst Du hier daheim, bis Du bei der Polizei die Treppe raufgefallen bist. Richtig? Und Du hast genauso nie etwas von einem Toten in Eurem Garten gehört als wie ich. Richtig? Weil kein Mensch im Dorf nie je von einem Toten geredet hat, der wo hier liegen soll. Richtig?“
Franz nickt bei jedem Richtig.
Seine Gedanken gingen zurück. Er hatte eine wunderschöne Kindheit hier verbracht, mit seinen Freunden im Dorf. Selbst als junger Polizist war er hier wohnen geblieben, bis er Karriere machte und in die Stadt ziehen musste. Auch wenn er zum Schluss nur noch zu Mutters Geburtstagnach Hause kam, den Kontakt zum Dorf und seinen Bewohnern hatte er sich immer bewahrt, auch wenn die Menschen hier ihn inzwischen für einen eingefleischten Städter hielten.
Norbert redete weiter:
„Und Du bist immer wieder zurückgekommen. Richtig? Mit der Zeit immer seltener, aber immer wieder zurückgekommen. Richtig? Und jetzt wirst du bleiben. Richtig?“
„Ja, ich werde bleiben.“
„Komisch. Aber ich freue mich. Und die anderen freuen sich bestimmt auch. Mensch, wenn das Theater rum ist, dann machen wir einen drauf, dass er Krallen kriegt.“
Zwei weitere Streifenwagen fuhren vor. Die Polizisten wussten nicht so recht, was sie tun sollten, drängten die Neugierigen zurück, die aus dem Ort heraufgekommen waren, versuchten, näheres von Norbert zu erfahren, waren froh, als endlich die Männer von der Spurensicherung kamen, um das Skelett vollständig auszugraben.
Franz saß derweilen auf der Bank und schaute dem Treiben zu. Dabei überlegte er, wer von den Alten im Dorf etwas wissen könnte. Wer wohl ein Geheimnis mit sich herumschleppte.
Ein dicker Mercedes kam um die Ecke.
Specht.
Graichgauers Nachfolger im Amt bei der Direktion in Ludwigshafen.
Nachfolger und Intimfeind.
Was wollte der hier? Die Station in der Stadt hier oben war doch voll besetzt und gute Arbeit leisteten die schon immer.
Norbert setzte seine Mütze gerade und sagte zu Franz:
„Oh leck’s am Ärmel, der Spatz!“
Specht wartete, bis ihm die Tür geöffnet wurde, stieg aus und fragte, ohne zu grüßen:
„Wer hat die Leitung?“
Norbert ritt der Teufel, als er meldete:
„Herr Kriminaldirektor Graichgauer.“
Specht bekam einen tiefroten Kopf.
„Es gibt keinen Kriminaldirektor Graichgauer mehr, also auch keinen Leiter der Untersuchung dieses Namens. Merken Sie sich das! Wie kommen Sie überhaupt auf den?“
„Ihm gehört das Grundstück.“
„So? Das ist aber interessant. Und wer hat die Leiche gefunden
„Kriminaldirektor Graichgauer. Aber halt, den gibt’s ja gar nicht mehr.“
„Wo ist der Kerl? Haben Sie ihn in Arrest genommen?“
„Wozu? Der Tote ist wahrscheinlich älter als er. Warum soll ich ihn dann verhaften?“
„Behalten Sie ihre Weisheiten für sich. Was Fakt ist, bestimme ich.“
Franz hatte sich erhoben und war nach vorne gekommen.
„Hallo, Kollege Specht. Dass wir uns so wiedersehen, hätte ich nicht gedacht.“
„Kollege waren wir. Das ist vorbei. Endgültig. Merken Sie sich das. Halten Sie sich bereit zur Vernehmung“
Dann trat er zu den Männern in der Grube.
„Schon Ergebnisse?“
„Die Leiche liegt seit mindestens 50 Jahren hier, eher länger. Anscheinend männlich. Auffällig sind die vielen gebrochenen Knochen. Außerdem fällt auf, dass es keinerlei Kleiderreste gibt. Der Körper wurde wohl nackt verscharrt. Näheres können wir erst sagen, wenn wir alles geborgen haben.“
Franz bot an, sich einmal im Dorf umzuhören.
Specht blickte auf.
„Sie halten sich da‚raus! Sie sind nicht mehr im Dienst! Dies ist mein Fall! Haben Sie das endlich verstanden?“
Dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Von dort rief er zurück:
„Genaues Protokoll direkt auf meinen Schreibtisch! Verstanden? Auch das Vernehmungsprotokoll! Unverzüglich!“
Norbert meinte:
„Komm’, Franz, geben wir dem Spatz seinen Hafer zu fressen. Sag, was ich schreiben soll, du kannst das besser als wie ich.“
Franz lachte:
„Pass’ bloß auf, dass er nicht hört, dass du Spatz zu ihm sagst, sonst sorgt er dafür, dass du auf deine alten Tage noch ein Disziplinarverfahren an den Hals kriegst.“
Dann diktierte er seine eigene Vernehmung und den Bericht für Norbert gleich dazu, wobei er sich bemühte, die Sprache entsprechend zu variieren. Zufrieden tippte jener die Aussagen ab und schickte sie ‚An den Herrn Kriminalrat persöhnlich Specht.’
Nachdem die Polizisten die Flatterbänder abgenommen und lediglich den Graben weiterhin als gesichert markiert hatten, zogen sie ab. Die Gaffer drängten vor, wollten Franz ausfragen, streuten aber erst einmal ihre dörflich-dümmlichen Gerüchte und Vermutungen aus.
„Stimmt’s, dass er das ganze Maul voll Goldzähne hat? Dann ist es ein Russ’! Die haben alle das Maul voller Goldzähne gehabt.“
„Von unseren Russen kann es keiner sein, die haben die Ami’s gleich abgeholt und ab nach Sibirien. Keiner hat dableiben dürfen.“
„Vielleicht haben die einen totgeschlagen und bei uns verscharrt.“
„Wenn einer den hier verscharrt hat, dann war’s einer von drüben aus dem Elsaß. Ich trau’ keinem von drüben und wenn ich ihn sehe.“
„Wenn’d das noch mal sagst, schlag ich dir die Zähne ein, Schlappmaul, elendes. Meinst Du, Du bist was Besseres als wir, bloß weil Du aus dem Reich bist?“ schimpfte ein Elsässer, der schon lange im Dorf lebte.
„Dich hab’ ich doch gar nicht gemeint. Du weißt genau, wen ich meine. Schließlich habt ihr schon einmal einen rübergeschleppt.“
Er spielte darauf an, dass Elsässer einmal einen Ermordeten über die Grenze trugen, damit die Deutschen und nicht sie die Arbeit damit hatten, den Fall aufzuklären. Das Rüberschleppen war aber beobachtet worden und zwei Burschen schafften den Toten bei Nacht und Nebel wieder über die Grenze zurück.
„Hör’ doch auf mit dem alten Kram!“
„Vielleicht haben die einen totgeschlagen, weil er mitgemacht hat beim Hitler und uns wollen die das in die Schuhe schieben und haben ihn hier verscharrt.“
„Wenn du jetzt noch einen Ton gegen uns sagst, schlag ich dir doch noch die Zähne ein.
„Ruhig Leute, deswegen brauchen wir doch nicht zu händeln.“
„Von uns hier ist er keiner. Der letzte, der bei uns verschwunden ist, das war noch zu Napoleons Zeiten, das hat die Großmutter immer erzählt.“
„Vielleicht ist er das, wer kann’s wissen?“
„Sag’ doch du mal was, Franz. Ist es so, nix gewisses weiß man noch nicht?“
Franz versuchte zu beruhigen.
„Leute, lasst jetzt mal die Leute in Ruhe. Geht heim und fragt bei allen Alten nach, ob sie etwas wissen. Wer der Tote sein könnte. Was das für ein Graben gewesen war, in dem er gefunden wurde. Ob jemand eine alte Zeitung hat, in der etwas über den Unbekannten stehen könnte. Oder ob in der Bibel oder im Gebetbuch etwas steht. Am Abend komme ich in die Krone, dann reden wir weiter.“
Der Streifenwagen mit Norbert kam zurück. Die Menschen trotteten sich. Der Polizist und die junge Kollegin stiegen aus und traten in den Garten.
„Franz! Komm’ mal her und zeig der Kleinen, auf was sie alles aufpassen muss, wenn sie über so einem Fall stolpert.“
Franz lachte, reichte der jungen Frau die Hand und sagte:
„Erstens, ich nehme an, dass Sie nicht Kleine heißen. Aber nehmen Sie’s ihm nicht übel, es ist nun mal so seine Art. Zweitens, ich bin pensioniert, habe also mit dem Fall nichts zu tun, das hat mir der leitende Beamte eindeutig klar gemacht. Drittens, der Tote ist von mir auf meinem Grundstück
gefunden worden, also bin ich involviert, das heißt, ich hänge trotzdem drin in dem Fall. Außerdem, die Gedanken sind frei. Also, wie heißen Sie?“
„Kein Witz, Inge Klein. Aber Inge genügt.“
Franz lachte wieder und sagte:
„So, dann schauen Sie sich den Tatort einmal ganz genau an.“
Inge ging suchend um die Grube herum und begann dann aufzuzählen:
„Ein grabenförmiges Loch in der Erde, circa 3 Meter lang, circa 50 Zentimeter breit und rund 1,50 Meter tief. An der östlichen Seite ist ein kleiner Wall Mutterboden aufgehäuft, an der westlichen der Aushub aus dem Bereich darunter, hauptsächlich heller Sand, aber auch Steine. Ob und was sich einst in der Grube befunden hat, ist nicht mehr festzustellen.“
Norbert applaudierte und meinte zu Franz:
„Na, die wird was, gell?“
Der nickte, ging in die Hocke und zog Inge mit herunter.
„Sie stammen vom Lande, denn Sie können Mutterboden von gewöhnlichem Aushub unterscheiden. Sie haben einen sicheren räumlichen Blick und sind vermutlich gut in Mathematik. Sie erkennen exakt die Himmelsrichtungen. Das ist sehr gut. Aber es ist noch mehr zu erkennen. Sie sagen, der Aushub sei heller Sand, gemischt mit Steinen. Was sind das für welche?“
„Kiesel, dazu größere, kieselartige Steine, dann einige Backsteinbrocken, das Rote anscheinend Reste von Dachziegeln, das hier könnte Beton sein, die weißen Fetzen kann ich nicht bestimmen. Hier sind einige Eisenteile unbestimmbarer Herkunft. Es könnten Nägel gewesen sein. Der Aushub ist nicht gleichmäßig erfolgt, deshalb sind die Anteile pro Lage prozentual nicht bestimmbar.“
Norberts Augen wurden immer größer:
„Ich werd’ verrückt, die Kleine! Was sagst Du dazu? Das hat die alles bei mir gelernt!“
Franz meinte:
„Bravo! Nun, die weißen Fetzen, das ist Kalk, vermutlich von einem Verputz. Jetzt zähle ich Ihnen auf, was die Leute aus dem Dorf vermutet haben. Einer meinte, der liege schon seit Napoleons Zeiten hier.“
„Unmöglich, denn die Ziegel- und Backsteinbrocken haben mit Sicherheit keine zweihundert Jahre im Boden gelegen.“
„Einverstanden. Einer meinte, es könne ein Russe gewesen sein mit dem Mund voller Goldzähne“
„Unwahrscheinlich, das Gebiss zeigte nur eine Plombe.“
„Richtig. Wie lange, schätzen Sie, hat der Tote hier gelegen?“
„Ich nehme an, seit dem letzten Krieg. Darauf deutet der Graben hin. Vielleicht ist es einer von jenseits der Grenze, die haben damals die Gelegenheit genutzt. Das weiß ich verbindlich. Aus meiner Familie.“
„Donnerwetter. Alle Achtung. Ich mache Ihnen ein Angebot. Halten Sie die Augen und Ohren auf. Ich tue das auch. Und wenn wir etwas herauskriegen, tauschen wir uns aus.“
Norbert warnte:
„Laßt das bloß nicht den Spatz hören. Sonst reißt er Dir den Kopf ab und Ingekinds Karriere ist vorbei bevor sie angefangen hat.“
„Norbert, Ihr seid doch ein Team, also profitierst Du genauso davon wie die junge Kollegin.“
„Ach was, mir bringt das nichts mehr. Meinetwegen kann sie alle Fälle alleine lösen. Ich warne nur vor dem Spatz. Du kennst ihn. Und um Inge wäre es schade.“
Im Wagen quäkte das Funkgerät.
„Halb sechs. Auf, Kleine, die Pflicht ruft. Es ist Feierabend. Wahrscheinlich hat sich wieder einer um einen Baum gewickelt. Diese Idioten haben ja nie Zeit. Müssen immer nur rasen und rasen.“
Die beiden fuhren ab.
Franz ging duschen, zog sich um und spazierte langsam dem Dorf zu.
*****
Die ‚Krone’ liegt ziemlich am Anfang des Dorfes, vom Forsthaus her gesehen. Franz begegnete jetzt am späten Nachmittag nur zwei Menschen auf der Straße. Zunächst kam ihm ein Junge auf dem Fahrrad entgegen, der bremste und ihm zurief:
„Sie sollen zu meinem Opa kommen, der weiß was.“
„Wie heißt der denn?“
„Der Müller Jean, in der Zwerchgasse Nummer 5. Dort, wo die Feige vorm Haus steht. Er kann nicht kommen, weil er nicht laufen kann.“
„Und wie heißt Du?“
„Oliver.“
„Gut, ich gehe gleich hin.“
„Alla, OK.“
An der Ecke zur Gasse saß eine alte Frau am Hoftor. Er kannte sie, es fiel ihm aber nicht sogleich der Name ein.
„Weißt’ nicht mehr wer ich bin? Die Fränz. Ich war doch Vorarbeiterin im Wald bei Euch.“
„Ja natürlich, die Fränz mit der Sens. Ihr habt immer das Gras im Chausseegraben gemäht für die Geißen.
„Das weißt Du noch? Gescheites Kerlchen. Du hast einen gefunden in Deinem Garten?“
„Ja. Wisst Ihr wer das sein könnte?“
„Nein, aber ich habe manches Mal in dem Loch gehockt, wenn die Jabos kamen. Das hat die HJ gemacht, als Splittergraben. Das war unser Glück, die hätten uns sonst abgeknallt wie die Hasen, die Sauhund, die elenden. Wo gehst du hin?“
„Zum Müller Jean.“
„Ja, geh nur zu dem, der weiß was, der war doch Führer.“
Der alte Müller saß im Hof auf der Bank, den Fuß in Gips.
„Ah, Franz. Gut dass Du kommst. Ich bin von der Leiter gefallen und habe den Haxen kaputt. Du willst was wissen, nehm’ ich an.“
„ Ja. Die Fränz sagt, Ihr wart dabei als Führer. Wobei? Was hat der Graben zu bedeuten? Wie kam eine Leiche da hinein? Wer hat ihn zugeschüttet?“
„Langsam! Langsam! Ein alter Mann ist kein D-Zug. Also, den Graben haben wir gemacht von der Hitlerjugend. Genauer, das Jungvolk hat ihn gebaut. Ich war Fähnleinführer und habe ihn mit meinen Buben ausgehoben. Damals haben die Jabo’s angefangen, auf alles zu schießen. Da hat
man befohlen, Splittergräben auszuheben für die Leute, denen es nicht mehr in einen Luftschutzkeller langt. So die Chausseen entlang oder an besonderen Stellen wie am Forsthaus. Dort waren immer Leute am und im Wald.“
„Gut. Aber wie kam die Leiche dahin.?
„Also, wir haben einmeterfünfzig tief gegraben und den Aushub als zusätzlichen Kugelfang nach vorne aufgehäuft. Das Forsthaus war ja nur im Schussfeld, wenn sie von vorne kamen. Vielleicht hat da einer dringesessen und ist trotz allem getroffen worden. Vielleicht haben die auch mit Bordkanonen geschossen und der Graben ist zusammengerutscht. Wer soll das heute noch wissen?“
„Ist niemanden aufgefallen, dass der Schutz auf einmal weg war?
„Nachdem das mit den Mädchen passiert war, ist niemand mehr in die Nähe des Forsthauses gegangen.“
„Nachdem was passiert ist?“
„Die Diener-Sus war mit den Mädchen Streusel rechen für den Stall. Da ist ein Jabo gekommen und hat was gesehen und hat geschossen und hat alle vier voll getroffen, ein paar Weiber, die in der Nähe waren, verletzt. Das war ein Theater im Dorf! Wenn die den Kerl gehabt hätten, die hätten ihn lebendig gefressen. Die Jabos waren die verhasstesten Banditen im ganzen Krieg. Bei denen hat keiner Pardon gegeben.“
„Sonst wisst Ihr nichts Näheres?“
„Nix. Aber vielleicht fällt mir irgendwann etwas ein, das ich längst vergessen habe. Denk doch mal, wie lang das her ist. Da hast Du noch im Kindelsbrunnen gehockt.“
„Gibt es denn gar keinen im Dorf, der etwas wissen könnte?“
„Bestimmt. Aber entweder denkt er nicht mehr daran oder er hat weiter Angst etwas zu sagen, wie so viele, die damals dabei waren. Rede einfach mit den Alten und frage die Jungen, was die Großmutter ihnen einmal erzählt hat. Manchmal kommt etwas heraus dabei.“
Ehe Franz sich verabschiedete, bat er Müller, er möge sich bei seinen ehemaligen Hitlerbuben umhören, ob sich von denen einer an etwas erinnern könne.
Fränz saß immer noch vor dem Hoftor und wollte wissen, was er erfahren habe. Er berichtete ihr kurz von dem, was er gehört hatte.
„Ja, die Mädle. Die Dieners waren die Ärmsten im Dorf. Vier Kinder, der Vater im Krieg vermisst, dann so was. So schöne Mädle und so schöne Namen. Der Diener hat gesagt, wenn ich meinen Kindern nix vererben kann, sollen sie wenigstens schöne Namen haben. Kriemhild, Brunhild und Mechthild haben sie geheißen. Der Siegfried war nicht dabei, der war schon in der Lehre. Und so was haben die Verbrecher einfach abgeknallt.. Der Teufel soll sie heut’ noch holen!“
*****
Es war Abend geworden. Franz ging endlich zur ‚Krone’ hinüber. Der Wirt setzte ihn gleich in das Nebenzimmer, damit er wenigstens noch in Ruhe essen konnte. Draußen wurde es immer lauter. Es schienen viele gekommen zu sein, die meisten wohl aus Neugier.
Als er in die Wirtsstube trat, waren fast alle Plätze besetzt. Er wurde gleich mit mehr oder weniger dümmlichen Fragen und Vermutungen überhäuft.
„Ist das überhaupt ein richtiger Toter? Oder hat sich einer einen Spaß gemacht und so ein Plastikding versteckt? So was gibt’s, das weiß ich.“
„Vielleicht ist’s ein Urmensch, so wie der Homo von Heidelberg.“
„Woher willst Du wissen, dass der homo war?“
„Depp! Muss jeder gleich merken, wie blöd Du bist?“
„Hör doch mal rum, ob die Weiber einen Maroc totgeschlagen haben im Krieg.“
„Im Krieg ist soviel passiert.“
„Nach dem Krieg auch noch.“
„Mich tät’s nicht wundern, wenn’s ein Maroc wär’.
„Ein Asylant kann’s auch sein.“
„Oder ein Flüchtling.“
„Wir sind alle da, hier ist keiner mehr von uns umgekommen.“
„Guck mal im Kirchenbuch, der Pfarrer hat doch immer alles aufgeschrieben.“
„Bei uns in der Bibel steht nichts, obwohl die Großmutter immer alles aufgeschrieben hat.“
„Und meine Großmutter hat immer gesagt, beim Napoleon ist einer verschwunden, weil er bei dem nicht hat Soldat werden wollen.“
„Meinst Du, dass Du das jemals nochmals rauskriegst?“
„Die SS hat doch am Schluss auch noch …“
„Ein unbekannter Soldat vielleicht …“
„Wieso seid Ihr sicher, dass es kein Weibsbild war?“
„Weißt Du schon was wegen dem Goldzahn?“
„Wenn noch eine was weiß, dann die Bas Marie.“
Franz nahm einen Flaschenöffner von der Theke und klopfte an sein Glas um das Durcheinandergerede abzubrechen.
„Leute, jetzt setzt Euch mal alle hin und seid ruhig.“
„Wie in der Schul’.“
„Richtig, wie in der Schule. Hört auf mit Spekulationen, das bringt nichts. Ich sage Euch, was ich bisher herausgebracht habe und Ihr ergänzt mich, wenn Ihr dazu etwas zu sagen habt. OK?“
„Klar.“
„Fest steht, der Tote liegt in einem ehemaligen Splittergraben, folglich ist er frühestens 1944 dorthin gelangt. Es ist ziemlich sicher das Skelett eines Mannes. Der Aushub hat gezeigt, dass der Leichnam damals bewusst eingescharrt worden ist, und zwar nackt, denn wir haben keine Kleidung gefunden. Auch sonst fehlen alle Hinweise. Keine Erkennungsmarke. Kein Fingerring. Nichts. Nur eine Goldplombe im Gebiss.
Eliminieren wir alle Eure Vermutungen, die nicht zutreffen können. Plastikskelett, Urmensch, Napoleonkrieger, Flüchtling, aber auch Asylant scheiden aus. Bleiben nur die Möglichkeiten um das Kriegsende herum.
Was ist da wahrscheinlich, was nicht?
Dass jemand von jenseits der Grenze hier verscharrt wurde, bezweifle ich zunächst.
Ein SS – Mann, das kann nicht ausgeschlossen werden, auch nicht ein unbekannter Soldat, der beim Rückzug noch gefallen ist, auch nicht ein Kriegsgefangener, zum Beispiel ein Russe ..
Aber was meint Ihr mit Maroc?“
„Weißt Du das nicht? Mit den Amis sind doch angebliche Franzosen gekommen, alles Nordafrikaner, die sind hier über die Weiber hergefallen, schlimmer wie die Russen. Wenn von denen einer abgemurkst worden ist, dann war das kein Verbrechen, dann war das Notwehr. Das muss erlaubt gewesen sein.“
„Wer könnte da näher Bescheid wissen?“
„Alle alten Weibsbilder im Dorf. Aber von denen macht bestimmt keine das Maul auf. Niemand will mehr daran denken.“
Neue Vermutungen tauchten auf, wurden diskutiert, wieder verworfen, die Zeit schritt fort, wirklich Neues konnte Franz nicht mehr erfahren.
Bevor er nach Hause ging, suchte er noch die Toilette im Hof auf. Dort stand der alte Buchmann.
„Bub, pass auf, rühr nicht zu viel in dem Dreck rum, sonst passiert was. Warum musst Du auch ausgerechnet dort graben wo ein Toter liegt. Der Garten ist doch groß genug.“
„Das war keine Absicht. Ich will einen Nussbaum setzen und der Platz dazu schien mir geeignet. Ich konnte doch nicht ahnen, dass da so etwas zum Vorschein kommt.“
„Trotzdem, Bub, ich warne Dich.“
„Das ganze ist Sache der Polizei geworden und ich gehöre nicht mehr dazu. Ich kann also gar nichts tun als abwarten. Aber der Tote wurde nun einmal in meinem Garten gefunden, also bin ich betroffen, das muss man verstehen.“
„Alles klar. Aber rühr’ nicht zu viel auf. Die meisten von damals sind tot, denen macht sowieso niemand mehr den Prozess. Aber es will auch niemand sagen müssen, mein Großvater oder meine Großmutter, die haben einen totgeschlagen.“
„Herr Buchmann, Sie wissen wohl mehr, als Sie sagen?“
„Ich will keinen Krieg im Dorf. Sei froh, dass Gras über alles gewachsen ist. Fress’ es nicht ab, ich rate Dir’s im Guten.“
„Sie wollen nicht reden?“
„Franz, ich bin ein alter Mann und will meine Ruhe haben. Aber Du, Du pass’ auf auf Dich!“
*****
Am nächsten Morgen fand Franz erst gegen acht Uhr aus dem Bett, stand unter der Dusche, als das Telephon klingelte und wieder aufhörte, bevor er den Apparat erreichen konnte. Es klingelte nochmals vergeblich, während er sich bemühte, in einen zu eng gewordenen Anzug zu schlüpfen. Es klingelt ein drittes Mal, nur kurz, dann war Ruhe.
Franz setzte sich an den Frühstückstisch und schlug die Zeitung auf. Anscheinend war ein Informant gestern mit in der Krone gewesen. Der hatte im Lokalblatt dem Fall fast eine ganze Seite gewidmet. Alle am Abend geäußerten Vermutungen hatte er ausgebreitet, keine, auch nicht die abstruseste Theorie ausgelassen, dabei mehrmals seinen Namen erwähnt.
Verdammt, wie würde Specht das aufnehmen?
Fünf Minuten später kamen Norbert und Inge vorgefahren.
„Hast Du das Telephon nicht gehört? Das war Spatz. Der tobt wie hundert Affen wegen der Zeitung und weil Du gestern die Leute befragt hast. Ich weiß nicht, woher er das so schnell erfahren hat. Er will Dich anklagen wegen Amtsanmaßung. Und jeden anderen auch, der in dem Fall rumrührt. Da hab’ ich ihm gesagt, dann kann er das ganze Dorf anklagen, weil jeder im Fall rumrührt .Jetzt kommt er her, weil er Dich und alle anderen verhören will. Am besten haust Du heute ab.“
„Danke Norbert. Aber sag’ mal, wieso fährst immer Du herum? In deinem Alter musst Du das doch nicht mehr. Das ist doch Aufgabe der Jungen.“
„Nicht in unserem Bezirk. Bei uns sind nur die zwei Mädls jung, sonst sind wir alle fünfzig und älter. Personalmangel. Bei der Kripo genauso. Das ist nicht von uns gewollt, das ist Politik. Weil bei uns herausen nie was los ist. Und ich fahre lieber Streife als am Schreibtisch zu sitzen. Weißt Du, im Grunde muss jeder alles machen, sonst hätt’ ich Dich ja nicht verhören dürfen.“
Inge stieg nun ebenfalls aus dem Wagen und meinte:
„Das ist ja ein regelrechter Krieg, den Specht mit Ihnen führt.“
„Mit uns, Ingekind, der hat Krieg mit uns! Aber das wollen wir einmal sehen, wer den Krieg gewinnt, der oder wir.“
„Norbert, pass’ auf, Du bist Polizist, Du musst Specht alles melden, was Du herausbekommst, das weißt Du doch!“
„Keine Angst, ich melde alles, was ich herausbekomme. Und das ist wahrscheinlich nicht viel, was mir furchtbar leid tun wird.“
Franz gab Inge noch schnell einige Informationen, die sie als eigene echte Ergebnisse an Specht weitergeben sollten, dann holte er den Wagen aus der Garage und fuhr weg, Er nutzte die Zeit, die längst bestellten Handwerker ein bisschen zur Eile anzutreiben, schließlich wollte er in sein Haus einziehen, bevor der Winter kam.
*****
Gegen Abend kehrte er zurück, stellte den Wagen in die Garage und da es Freitag war, wollte er zum Fischessen gehen. Langsam schlendert er zur ‚Krone’. Dort saß Norberts Ingekind vor schon geleertem Teller.
„Hallo, Fräulein Klein, darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Nur unter der Bedingung, Herr Graichgauer, dass Sie mich Inge und nicht Fräulein Klein nennen.“
„Gut, Inge, ich bin dann aber nicht der Herr Graichgauer, sondern der Franz.“
Beide lachten.
Der Wirt kam und sagte:
„Franz, ‚s gibt Ochsenfleisch mit Meerrettich. Einverstanden?“
„Klar.“
„Bis es fertig ist, kann Dir Inge erzählen, was hier los war. Ein Narrenhaus ist ein Erholungsheim dagegen.“
„Zuerst möchte ich wissen, Inge, wieso Sie hier sind? Immer noch im Dienst?
„Nein. Norbert meinte, ich soll noch ein bisschen die Ohren radeln lassen, was die hier so weiter von sich lassen. Er fährt mich dann später mit dem Privatwagen heim.“
„Sie wohnen nicht hier?“
„Nein, drüben, in der Stadt.“
“Aber jetzt zur Sache.“
„Specht ist bald geplatzt vor Wut, weil er Sie nicht erreichen konnte. Dann hat er alle vorladen lassen, hier in`s Nebenzimmer, alle die gestern in der ‚Krone’ waren. Das hat natürlich nicht geklappt, schließlich arbeiten viele noch, und das auswärts.
Ich habe Protokoll geführt. Als erster kam einer freiwillig, der rote Drechsler, der Hitzkopp und hat gesagt, hopp, hopp, ich hab’ wenig Zeit. Specht schickte Norbert vor, der sollte mit den Verhören beginnen. Also sagte der: ‚Bitte Ihren Namen und Ihre Adresse.’ Ich hab’ gemeint, der Drechsler fällt vom Stuhl. ‚Hä?’, hat er gesagt, ‚Wie ich heiß’? Seid ihr jetzt ganz meschugge? Um mich vorzuladen habt Ihr doch auch gewusst, wie ich heiß’. Hör auf und fang an. Ich bin schließlich kein Staatsfaulenzer, ich muss mein Geld noch sauer verdienen, damit man mit meiner Steuer Euch bezahlen kann. Schreib ab, wie ich heiß’, das wirst Du noch können. Und dann schreib’ noch: Der Drechsler weiß’ nix.’ Hier hat sich der Specht eingemischt und eine Ordnungsstrafe beantragt. Da ist der Drechsler ganz ausgerastet. Der Specht wollte ihn sofort in Beugehaft nehmen, ließ es aber dann bei einer Drohung mit einem Prozess wegen Aussageverweigerung und Beamtenbeleidigung.
Das war ein doppelter Fehler.
Es waren noch keine zwei weitere Geladene vergebens befragt, kommt der Drechsler noch einmal in die Verhandlung geplatzt und hat ein Polaroidfoto auf den Tisch geknallt. ‚Inge, schreib’ eine Anzeige. Da parkt einer vor der Feuerwehrausfahrt. Das kostet Geld und gibt Punkte in Flensburg.’
Auf dem Bild war Spechts Wagen zu sehen, vor der Einfahrt zum Spritzenhaus, daneben vier von denen, die geladen waren. Die haben gegrinst wie noch was.
„Das war nicht bloß leichtsinnig, das war sogar Vorsatz. Die viere auf dem Bild haben gehört, wie der da,’ dabei zeigte er auf Specht, ‚wie der da zum Fahrer gesagt hat, er soll sich dort in den Schatten stellen, es wird nicht gleich so ein Idiot kommen, der in die Einfahrt will. Das wird alles beschworen.“
‚Tut mir leid’, sagt Norbert zu Specht, ‚bei soviel Zeugen, da muss ich leider ein Protokoll aufnehmen bei der eindeutigen Sachlage. Tut mir leid.’
Da ist Specht endgültig geplatzt.
‚Die verdammten Saubauern, man sollte sie alle an die Wand …’
Den Rest hat er gerade noch verschluckt.
Der Drechsler aber hat sofort eingehakt:
‚Norbert, noch ein Protokoll. Beleidigung und Volksverhetzung. Drei Polizeidiener zum Zeugen.’
Da geht das Fenster auf, das eigentlich fest verschlossen sein sollte, und die vier, die schon beim Auto dabei gewesen waren, streckten den Kopf herein und sagten: ‚Wir heben die Hand auch. Wir haben’s gehört.’
Da ist der Specht aufgestanden und hat ganz ruhig gesagt: ’Morgen Nachmittag liegen alle Aussagen auf meinem Schreibtisch!’ und ist verschwunden.
Wir haben dann alle noch befragt, die gekommen waren, aber keiner hat nix gewusst.
Specht hat später per Telefon die Anordnung getroffen, die restlichen Befragungen vorerst auszusetzen.
Entschuldigung, eigentlich dürfte ich das alles nicht sagen, weil es Vernehmungen waren, aber da die Schlawiner draußen sowieso alles mitgehört haben, erfahren Sie es besser von mir als aufgebauscht von denen.“
„Keine Angst, das war kein Dienstvergehen, Sie müssen mich schließlich über die Vorgeschichte informieren, damit Sie mich ordnungsgemäß verhören können.“
Verblüfft starrte Inge ihn an.
„Ja. Sie melden morgen nach Ludwigshafen, Sie hätten nach Dienstschluss mich noch erwischt und sofort befragt, bevor ich hätte wieder verschwinden können. Sie, nicht der Norbert, der braucht es ja nicht mehr, hat er gesagt.“
Das Essen kam und sie plauderten über allgemeines. Dann befahl Franz:
„Nehmen Sie ein Blatt Papier und schreiben Sie!“
„Gerne, aber möchten Sie nicht Du zu mir sagen, schließlich waren wir einmal Kollegen, auch wenn wir uns nicht gekannt haben.“
„Dann sagen wir aber beide Du. Gut. Und jetzt schreibe!“
Er diktierte ihr einige Nebensächlichkeiten, von der Tatsache, dass der Tote in einem ehemaligen Splittergraben verscharrt worden war, bis zur Vermutung, dass keiner mehr lebe, der diesen Toten gekannt habe. Möglicherweise handele es sich um einen unbekannten Soldaten, der am Ende des Krieges noch gefallen war und im erstbesten Loch rasch beerdigt worden sei. Außerdem habe er definitiv erklärt, alles, was er durch Zufall in Erfahrung bringen werde, unverzüglich der Polizei zur Kenntnis zu geben.
„So, das gibst Du weiter, mit Deinem Namen unterschrieben. Und morgen holst Du Dir neue Informationen ab.“
„Das habe ich ihm alles schon gemeldet. Aber egal, Kleinkrieg ist auch Krieg.“
„Ihr habt heute eine Schlacht geschlagen, Specht hat verloren, Du wirst im Nachhinein Gelände gut machen. So muss das laufen.“
„Ein Begriff noch, der so nebenbei gefallen ist, den hätte ich gerne erklärt. Was heißt NS Frauenschaft?“
„In welchem Zusammenhang hast Du das gehört?
„Die älteste noch lebende Frau aus dem Dorf sei eine Marie, die sei das gewesen. Im Protokoll steht das nicht, es war ein Tipp an Norbert, nach der Vernehmung gegeben“.
„Die alte Bas Marie. Ich kann mir schon vorstellen, dass die in der Partei damals mitgemacht hat. Was das genau heißt, muss ich auch erst nachschauen. Aber Danke für den Hinweis. Vielleicht weiß die wirklich etwas. Ich werde mich einmal umhören und zu ihr hingehen“
“Sie lebt in einem Altersheim. Übrigens, das mit den erschossenen Mädchen hat wahrscheinlich auch etwas mit dem Fall zu tun. Wer war der alte Förster? Dein Vater?“
„Das kommt darauf an. Für die Jungen war das mein Vater, für die Alten der Vorgänger, Gebweiler, ein Lothringer. Dessen Sohn hat später drüben über dar Grenze das Forsthaus Einbach geführt. Wir haben uns gut gekannt.“
„Mit dem muss ebenfalls etwas gewesen sein. Ich habe so hintenherum ein paar Mal den Namen gehört. Fass’ da auch mal nach.“
Norberts Frau kam, um Inge nach Hause zu fahren. Sie lud beide ein, am nächsten Dienstag unbedingt zum Abendessen zu kommen.
*****
Am Samstag werkelte Franz in seinem Garten herum, den Sonntag verbrachte er in seiner Stadtwohnung, wo er begann, Bücher auszusortieren und zu verpacken. Von den Möbeln würde er nicht viele mitnehmen, die alten, handgeschreinerten Schränke und Kommoden, Tische und Stühle, die die Eltern sich angeschafft hatten und die immer noch im alten Forsthaus standen, passten viel besser in sein neues Heim. Er musste nur alles aufpolieren lassen.
Am Abend fuhr zu seinem Haus zurück. Dort traf er einen alten Schulkameraden, der ihn belehrte, mit dem Setzen eines Nussbaumes müsse er bis November warten, dann habe der Baum seine Blätter abgeworfen, das spare Kraft, und die Wurzeln könnten sich über Winter langsam an den neuen Grund gewöhnen.
„Hätt’st gleich gewartet bis November, da wär’ der Boden schon fest gewesen und Du hätt’st nicht so tief gegraben, dann hätt’st auch keinen Toten gefunden und Dir die ganze mariage gespart.“
„So kann man es auch sehen. Jetzt aber ist der Tote gefunden, da müssen wir durch.“
„Wenn du mich fragst, dann war das mal ein Maroc. Meine Mutter sagt, die hätten’s verdient.“
Sie ließen das Thema, erinnerten sich an alte Zeiten und hatten zum Schluss zwei Flaschen Wein geleert.
*****
Als am nächsten Morgen pünktlich um Acht das Telefon klingelte, saß Franz bereits beim Frühstück. Es war Specht.
„Herr Graichgauer, ich habe Ihnen befohlen, die Finger von dem Fall zu lassen. Und ich befehle dies Ihnen zum letzten Mal. Außerdem begeben Sie sich unverzüglich hierher zu einer weiteren Vernehmung. Was sie der Wachtmeisterin Klein ausgesagt haben, genügt mir auf keinen Fall.“
„Guten Morgen, Herr Specht. Entschuldigen Sie, dass ich Sie erst einmal begrüße, aber ich wohne in einem Saubauerndorf, da ist Höflichkeit noch nicht ausgestorben. Im Übrigen gestatte ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie mir nichts zu befehlen haben. Ich bin nicht Ihr Untergebener. Des weiteren empfehle ich Ihnen, einmal die Vorschriften zu studieren, da werden Sie sehr schnell erkennen, dass Sie mich in diesem Fall nur hier zur Vernehmung bitten können, mehr nicht, denn es ist keine Gefahr in Verzug. Außerdem erlaube ich mir noch einmal den Hinweis, dass der Tote auf meinem Grundstück und von mir persönlich gefunden worden ist, so dass ich ein fundamentales Interesse daran habe, zu erfahren, wer er gewesen ist. Danach auch selbst zu forschen. daran kann mich niemand hindern … …“
Specht hatte aufgelegt.
Im Briefkasten fand Franz einen Zettel ohne Unterschrift, aber mit einem Hinweis: ‚Gebweiler, wohnt jetzt in Lothringen.’
Draußen fuhr der Wagen mit Inge und Norbert vor. Franz berichtete ihnen, was sich Specht gerade wieder geleistet hatte. Inge meinte, sie habe erst heute früh ein Fax mit den von ihm gegebenen Informationen abgeschickt, anscheinend seien diese falsch von Specht interpretiert worden.
Alle drei lachten..
„Wieder eine Schlacht gewonnen ohne einen Schuss. Franz, Du wirst mir unheimlich. Was machst Du heute?“
„Warten, ob die Handwerker endlich kommen. Ich will fertig sein, bevor es kalt wird.
Das Wunder geschah, der Dachdecker kam noch am Vormittag, der Maurer lud gegen Abend zumindest schon einmal Werkzeug ab, Franz hatte dann die ganze Woche kaum Zeit, sich um den Toten zu kümmern. Nur am Abend, wenn er in die ‚Krone’ ging, versuchte er, die Leute weiter auszufragen, merkte aber, dass diese immer unwilliger und abweisend wurden. Donnerstags kam der junge Oliver gefahren, der ihn schon einmal angesprochen hatte, er solle noch einmal zum Opa, dem Müller Jean kommen.
Am Abend ging er dort vorbei und erhielt eine Lehre:
„Bub, pass auf, bohr’ nicht zu tief. Ich glaub’ ja, es war ein Maroc. Ich weiß noch, wie die Militärgendarmerie die Häuser und die Wälder abgesucht hat, weil angeblich einige desertiert waren. Ich glaub’s nicht. Also ich hab keinen umgelegt und meine Frau auch nicht, die war zu klein damals. Aber stell Dir mal vor, wir hätten tatsächlich einen totgeschlagen. Das wäre kein Mord gewesen sondern Notwehr, so wie die damals gegen uns gehaust haben hier. Aber stell Dir mal weiter vor, das käme raus. Und wenn wir noch so im Recht gewesen wären, was wär’ das für den Bub, den Oliver, wenn sie zu dem sagen würden, dein Großvater ist ein Totschläger. Oder die Jungen, weil sie’s nicht besser wissen, weil sie vom Krieg keine Ahnung haben, die täten vielleicht sagen, dein Großvater ist ein Mörder. Kannst Du das einem Kind antun? Du wirst es aber tun, wenn Du zu tief bohrst.“
„Soll ich melden, dass es möglicherweise ein desertierter Soldat gewesen war?“
„Ein Maroc. Und dann lass’ es gut sein“
Franz war sehr nachdenklich, als er nach Hause ging.
*****
Als am Freitag wieder einmal Norbert und Inge vorbeikamen, erzählte er von seinem Gespräch mit dem alten Müller. Inge meldete daraufhin an ihre vorgesetzt Dienststelle, möglicherweise sei im Garten Graichgauers doch die Leiche eines unbekannten Soldaten, möglicherweise eines desertierten Franzosen möglicherweise nordafrikanischer Herkunft gefunden worden. Specht gab diese Nachricht als endgültiges Ergebnis polizeilicher Fahndung an die Presse weiter.
*****
Die Handwerker waren während der Woche tatsächlich mit den Außenarbeiten am Haus fertig geworden, so dass Franz wieder etwas Zeit hatte, sich dem Fall zu widmen. Er schloss zwar auch, wie Specht, die Möglichkeit nicht aus, dass es sich um einen desertierten Soldaten gehandelt haben könnte, er wollte aber nicht so recht daran glauben. Also entschloss er sich, vorsichtig weiter zu suchen.
Zunächst arbeitete er sich im Speyerer Landesarchiv einen ganzen Tag lang durch Stapel von Einzeldokumenten, die er sich mit Hilfe eines antiquierten Suchsystems mühsam zusammengetragen hatte. Er fand nichts. Gegen Abend kam er mit dem neben ihm Arbeitenden in ein Gespräch, der ihm riet, nicht im Archiv, sondern in der Landesbibliothek suchen, dort ständen ganze Zeitungsjahrgänge zur Verfügung, auch aus der Kriegs- und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zum dort Weitersuchen war es allerdings für heute zu spät.
Abends kam Inge vorbei, rein zufällig, wie sie sagte. Franz freute sich, sie tranken miteinander eine Flasche Wein und er erzählte ihr von seiner erfolglosen Suche.
„Ich werde noch einmal in Speyer herumwühlen, in der Landesbibliothek. Du könntest mir aber einen Gefallen tun, versuche doch bitte, die Adresse und die Telefonnummer von Förster Gebweiler herauszufinden, er soll nicht mehr im Elsass sondern in Lothringen in wohnen.“
„Mache ich.“
Sie tranken eine zweite Flasche zusammen, dann bestellte er ihr ein Taxi, denn beide waren nicht mehr fahrtüchtig.
*****
Am nächsten Morgen, in der Landesbibliothek in Speyer, bestellte Franz alle greifbaren Zeitungsbände aus der Zeit zwischen Oktober 1944 und Juli 1945 in den Lesesaal und begann zu suchen. Und fand eine Spur. In der NSZ vom 11. November 1944 stand ein Bericht, dass über dem Ringsberg ein Jagdbomber abgeschossen worden sei bei dem Versuch, einen Terrorangriffe auf die Bevölkerung zu fliegen. In heldenhafter Abwehrschlacht habe die Flak den Sieg über den Feind errungen.
Wo das Flugzeug abgestürzt war und ob der Pilot sich retten konnte, war nicht vermerkt.
Weitere verwertbare Hinweise fand er nicht. Vor allem keine darüber, dass nach dem Einmarsch der Alliierten Deserteure gesucht worden wären.
In der Mittagszeit, als er in der Kantine eine Kleinigkeit aß, kam er mit einem anderen Nutzer über seine Probleme in ein Gespräch, der ihm dringend riet:
„Seien Sie vorsichtig.. Es gibt noch genügend Menschen, die es nicht lieben, wenn alte Geschichten hochgekocht werden.“
Schon wieder diese Warnung, und das von einem wildfremden Menschen. Was steckte dahinter? Mehr noch, als der Müller Jean angedeutet hatte?
Er erzählte dem Fremden, ohne Namen zu nennen, dass und wie er bisher gewarnt worden war.
Der antwortete:
„Und? Haben Sie Kinder? Möchten sie vor Ihren Kindern als Mörder dastehen? Selbst wenn Sie in Notwehr gehandelt hätten, heutzutage würde man das Ihnen nicht mehr zugestehen. Also suchen Sie meinetwegen, wer der Unbekannte gewesen sein könnte, aber fragen Sie lieber nicht, wie er in Ihren Garten gekommen ist. Denken Sie immer daran, Sie müssen unter den Leuten leben, die Sie, ob zu Recht oder zu Unrecht, verdächtigen, etwas getan zu haben, von dem Sie nicht einmal wissen, was es gewesen sein könnte. Als ehemaliger Polizist müssten Sie wissen, Paragraphenrecht kann schnell zu Unrecht werden.“
Was sollte er darauf antworten?
Franz machte sich wieder an die Arbeit. Den in der alten Zeitung gefundenen Hinweis durfte er nicht kopieren, weil das Papier aus der Kriegszeit von schlechter Qualität und deshalb dafür inzwischen zu mürbe geworden war. Zum Glück hatte er seinen Photoapparat mit einem Schwarz-Weiß-Film dabei, so dass er wenigstens eine Aufnahme machen konnte. In der Stadt fand er einen Photographen, der bereit war, den Film sofort zu entwickeln und den aufgenommenen Text entsprechend zu vergrößern. Die Aufnahme war zwar undeutlich, aber lesbar.
Zufrieden fuhr Franz nach Hause.
*****
Am Abend spazierte er zu Norbert hinunter, der schon zwei Mal verschobenen Einladung folgend. Inge war schon da, der Tisch war gedeckt, man wollte aber mit dem Essen noch warten, weil sie eine Tante eingeladen hatten.
„Das hat seinen Grund,“ meinte Norbert, „deshalb erzähl’ nix, bevor sie da ist.“
Wohl wegen der alten Dame gab es leichte Kost, Haschee mit hausgemachten Nudeln und Salat, zum Nachtisch Apfelbrei. Es schmeckte allen bestens.
Dann erzählte Franz, was er in Speyer gefunden hatte.
„Hajo“, meinte die Tante, „das war, wie der Sauhund die Sus und die Mädelchen erschossen hat. Die Buben haben ihn getroffen und runtergeholt. Er ist vorm Berg in die Wingert geknallt und völlig ausgebrannt.“
„Erstens, wer ist verbrannt, das Flugzeug, der Pilot oder beide?“
„Das weiß man nicht genau. Der Flieger auf jeden Fall. Ob einer drinn war? Vielleicht. Manche meinen, er sei rausgeflogen und irgendwo in den Wald geknallt.“
„Ist er mit dem Fallschirm abgesprungen?“
„Davon hat nie niemand was gesagt. Ich bin sicher, wenn der nicht mehr im Flieger war, ist er ohne Fallschirm runtergeknallt.“
„Zweitens, welche Buben haben das Flugzeug abgeschossen?“
„Die von der Heimatflak. Die haben ihn abgeknallt.“
„Wer ist jetzt das schon wieder, Heimatflak?“
„Das waren Hitlerbuben, die haben Soldat spielen müssen. Von uns hier war der Försterbub dabei, der Schorsch. Wie hat er noch geheißen? Gebweiler. Gebweiler, Schorsch.“
Schon wieder dieser Name. Franz musste unbedingt versuchen, ihn zu sprechen.
Man diskutierte noch eine Weile hin und her, ohne zu weiteren Ergebnissen zu kommen.
Norberts Frau brachte die Tante in ihre Wohnung zurück. Norbert drängte:
„Hopp, schnell, was soll die Inge melden?“
„Sie soll als Gerücht melden, was die alte Dame erzählt hat. Weiter soll sie berichten, dass ich in Speyer anscheinend eine Zeitungsmeldung gefunden habe. Das Foto kriegt sie dann morgen, so dass sie an zwei Tagen etwas berichten kann.“
Inge fragte verärgert:
„Was soll sie noch machen? Kann er mir das sagen?“
„Ingekind, sei nicht gleich eingeschnappt. Sei froh, dass Du den Knochen kriegst. Hopp, ich fahr Dich heim.“
„Halt, eines noch, was stand über den Fall heute in der Zeitung?“
„Nix.“
Die Samstagsausgabe der Regionalzeitung widmete dem Fund am Forsthaus wieder eine halbe Seite, wobei nochmals alle, auch die phantastischsten Vermutungen der Dorfbewohner aufgezählt wurden. Die einzige Wahrheit in dem Artikel war die Tatsache, dass am alten Forsthaus ein Skelett gefunden worden war.
Norbert und Inge hatten dienstfrei, dennoch kamen sie am Vormittag vorbei. Franz saß gerade über seinen Notizen und versuchte, ein Beziehungsgeflecht zu erstellen.
„Laß’ das mal, ich habe Nachrichten für Dich. Der Gebweiler wohnt wirklich nicht mehr im Elsaß, er wohnt irgendwo in Lothringen. Die Adresse besorgt mir ein Kollege von drüben. Die alt’ Hex’, die Mayer Marie, ist in der Neustadt im Altersheim. Sie ist aber schon neben der Kapp’, sagt die Fränz., von der wirst Du wahrscheinlich nix mehr erfahren, obwohl ihr früher nix durchgegangen ist, was im Dorf passiert ist.
*****
Der Flieger war total ausgebrannt, alles verbogen und geschmolzen, aber ein Kerl war bestimmt nicht mehr drin. Wenn Du mir folgst, fährst du so schnell wie möglich bei der Mayer vorbei, vielleicht hat sie einmal einen lichten Moment.“
Franz überlegte.
„Morgen ist Sonntag. Da probier ich’s. Inge, willst Du mit?“
„Dienst. Nichts zu machen.“
Den Samstag Nachmittag nutzte Franz, vorsichtig noch einige ältere Bürger zum Flugzeugabsturz auszuhorchen, ohne aber Brauchbares zu erfahren.
*****
Am Sonntag Morgen ging er zur Kirche, um nach dem Gottesdienst den noch jungen Pfarrer zu befragen. Der wohnte nicht mehr im Dorf, hatte vier Gemeinden zu betreuen und keine Ahnung, was früher hier geschehen war. Er hatte nicht einmal den Artikel in der Zeitung gelesen. Er holte aber das Kirchenbuch aus der Zeit um das Kriegsende heraus und Franz bemühte sich, die in alter Deutscher Langschrift geschriebenen Eintragungen zu entziffern. Er fand keinen Hinweis auf den unbekannten Toten.
Da er für den Nachmittag keine anderen Pläne hatte, holte er seinen Wagen und fuhr gemütlich Richtung Neustadt, aß unterwegs eine Kleinigkeit und war gegen 3 Uhr nachmittags vor der hässlichen turmhohen Bausünde der siebziger Jahre, die sich Seniorenstift nannte. Von innen gesehen, machte das Gebäude, im Gegensatz zu seiner Außenwirkung, einen teueren Eindruck. Die Betreuer dort empfingen ihn sehr freundlich. Eine Pflegerin führte ihn hinaus auf die Terrasse zu einer altmodisch-elegant gekleideten Dame, die im Lehnstuhl saß und mit einer Puppe spielte. Die Schwester rief der anscheinend Schwerhörigen in’s Ohr:
„Besuch für Sie!“
Die Alte schaute mit trüben Augen hoch. Ein plötzliches Erkennen schien aufzublitzen, doch sofort senkte sie den Kopf und begann mit der Puppe zu sprechen:
„Guck, Liesel, da ist einer, der will zu Dir. Pass’ bloß auf, das ist ein filou! Frag ihn was er will.“
Sie änderte die Stimme und piepste:
„Was willst denn Du? Ich kenn’ Dich nicht.
„Bas Marie, ich bin der Förster-Franz. Kennt Ihr mich nicht?“
„Der Franz, der Lauser! Liesel, pass’ bloß auf. Das ist ein Quetschestrenzer. Einen halben Baum hat er mir leer geklaut.“
Daran erinnerte sie sich also! Er aber auch. Drei Mal hatte er Prügel dafür bekommen, erst von Marie, die ihn vom Zwetschgenbaum herunterdrosch, dann von ihrem alten Vater, der ihn mit dem Stock unten empfing und zum Schluss noch von seinem Vater mit der Haselrute.
Mit den reichen Mayers hatte man sich nicht anzulegen. Basta!
Franz versuchte nun, ihr klar zu machen, warum er hergekommen war, erzählte von dem Toten, von seinen Nachforschungen, von seinen Vermutungen.
Marie reagierte nicht, plapperte mit der Puppe, summte eine Melodie, schien überhaupt nicht zu verstehen, was Franz wollte.
Die Pflegerin kam zurück und meinte:
„Heute ist wieder nichts mit ihr anzufangen. Kommen Sie ein anderes Mal wieder. Gelegentlich ist sie klar. Man weiß aber nie, wann.“
Franz reicht der Puppe die Hand und sagte:
„A dieu, Liesel.“
Maries Augen blitzten auf.
„Tot ist tot. Laß’ die Finger davon! Tote soll man ruhen lassen.“
Dann senkte sie den Kopf und brabbelte mit der Puppe unverständliches Zeug.
Im Weggehen überlegte Franz, ob er nun eine senile Person oder eine grandiose Schauspielerin erlebt hatte. Er fand keine Antwort.
*****
Wieder verging eine Woche ohne neue Ergebnisse. Doch am Samstag war der Teufel los. Der Lokalredakteur hatte irgendwie herausbekommen, dass Franz eine neue Spur verfolgte, hatte sogar den Artikel vom November 1944 gefunden und diesmal dem Fall eine ganze Seite gewidmet. Und das tolle war, er hatte Photos von dem Wrack des abgestürzten Flugzeugs aufgetrieben. Neben wilden Spekulationen stellte er auch präzise Fragen, nach Augenzeugen, nach dem Flugzeugtyp, nach einer möglichen Verbindung zwischen dem Flugzeug und dem Toten am alten Forsthaus, frug zum Schluss aber boshaft: ‚Was verschweigt uns Herr Graichgauer, was die Polizei?’
Specht meldete sich diesmal nicht, obwohl Inge ihn sogleich über den Zeitungsartikel informiert hatte, setzte sich jedoch mit dem Amerikanischen Hauptquartier in Heidelberg in Verbindung, man möge dort bitte nachforschen, ob zu dem fraglichen Datum ein US-Jagdbomber von der Flak abgeschossen worden sei und ob ein Pilot vermisst werde.
„Wieder ein Sieg für Dich, wenn der Spatz sich nicht rührt“ meinte Norbert, „der hat sich, wie’s aussieht, die Finger an Dir genug verbrannt.“
Inge aber warnte:
„Du weißt, Specht vergisst nie. Pass’ also auf, da der Reporter auch von Dir gesprochen hat, muss Ihro Gnaden doch kochen vor Wut.“
Der Reporter, der anscheinend Karriere machen wollte und deshalb nicht locker ließ, hatte sich ebenfalls an das Hauptquartier gewandt und von dort den Bescheid erhalten, es werde offiziell kein Pilot vermisst, man habe aber eine Suchmeldung an das Pentagon weitergeleitet. Dies führte zu einem erneuten Artikel, so dass Specht reagieren musste. Er beharrte darauf, der Tote sei, wie längst vermeldet, ein unbekannter Soldat unbekannter Herkunft, sicher kein Pilot.
Am Wochenende hatte Norbert dienstfrei und nutzte die Gelegenheit, zu Freunden in’s Elsaß zu fahren. Am Abend schaute er bei Franz vorbei.
„Du, ich hab’s. Dem Gebweiler seine Frau hat ein Haus geerbt und in dem wohnen sie jetzt. Schreib’ auf, in Büchelberg, das ist gleich hinter der Elsässer Grenze im Lothringischen. Telephon haben sie anscheinend nicht. Fahr hin, der weiß bestimmt was, so oft, wie die den Namen schon genannt haben hier.“
„Gut, danke, Norbert. Sobald der letzte Handwerker aus dem Haus sein wird, werde ich sofort losziehen.“
„Sind die immer noch nicht fertig? Wenn die bloß beim Rechnungen schreiben grad so langsam wären wie beim Schaffen.“
„Im Innern ist noch einiges zu tun. Außen ist alles fertig, bis auf den Garten.“
*****
Am Samstag früh, Franz kam gerade aus der Dusche, rief Inge an.
„Hast Du die Zeitung gelesen? Der Reporter weiß ganz genau, dass der Tote Pilot war, sagt aber nicht, woher er die Information hat. Er schreibt, er habe sich mit dem Pentagon in Verbindung gesetzt und Bilder hingeschickt. Er sei sicher, bald den Namen herauszubekommen. Dann folgen einige ironische Bemerkungen über die Polizei und gegen Dich. Der Specht wird wieder toben, verlass’ Dich drauf.“
Diesmal kam von Specht eine Verlautbarung, dass nach nochmaliger Rückfrage beim Hauptquartier in Heidelberg nicht mehr ausgeschlossen werden könne, dass es sich bei dem durch Zufall exhumierten Toten um einen ehemaligen amerikanischen Piloten handle, dessen Leiche auf nicht mehr klärbare Weise in einem ehemaligen kriegsbedingt erstellten sogenannten Splittergraben durch bisher nicht ermittelbare Personen bestattet worden sei. Die amerikanische Militärverwaltung wolle den Toten übernehmen, um ihn nach Washington zu überführen. Dort würde er auf dem Heldenfriedhof Arlington als Unbekannter Soldat seine endgültig letzte Ruhe finden. Der Fall sei somit abgeschlossen.
Am Abend schaute Inge vorbei.
„Specht hat also den Krieg gewonnen. Gibst Du jetzt auf?“
„Nie! Ich will wissen, wer der Tote war und wie er in meinen Garten gekommen ist. Mag Specht auch den Krieg gewonnen haben. die letzte Schlacht ist noch nicht geschlagen. Machst Du mit?“
„Wieso fragst Du?“
*****
In den nächsten Tagen kam Inge nach Dienstschluss öfter in das alte Forsthaus, weil Franz ihr angeboten hatte, ihr aus seiner reichen Erfahrung heraus Anregungen und Hilfen für ihre Karriere zu geben. Die beiden diskutierten aber auch immer wieder alle Möglichkeiten zum Fall durch, ohne dass sie zu einem Ergebnis kamen.
Bald mochten beide die gemeinsamen Stunden, nicht mehr missen, gleich, ob der Einsatzplan dies am Tage oder erst am Abend möglich machte.
Eines Abends brachte sie Neuigkeiten mit. Die Amerikaner hatten den Toten abgeholt, Die Akten waren endgültig geschlossen worden. Aus Spechts Stall hatte aber ein anderer verlautbaren lassen, dass die Untersuchung des Skeletts in der Gerichtsmedizin in Mainz ergeben habe, dass die Plombe kein amerikanisches sondern europäisches Gold enthalte.
*****
Am Wochenende war es soweit, dass Franz sein Haus verlassen konnte, ohne dass ein Handwerker später sich hätte herausreden können, er sei da gewesen, habe aber niemanden angetroffen. Damit ergab sich die Gelegenheit, endlich nach Lothringen zu fahren, um den alten Förster Gebweiler aufzusuchen.
Franz lud Inge dazu ein. Die hatte zwar keinen Dienst, aber Besuch, so dass sie ablehnen musste, was sie offensichtlich bedauerte. So fuhr er gegen Mittag los, ließ sich Zeit, wählte den Weg über Lützelstein, den er lange nicht mehr gefahren war, kam gegen 3 Uhr in Büchelbereg an und fragte den ersten besten, den er auf der Straße traf, nach der Adresse.
„Do“, meinte der und zeigte auf ein kleines, alleinstehendes Haus in einem großen Garten voller Obstbäume.
Franz stieg aus, wollte das Tor öffnen, aber ein Dackel hinter dem Zaun fletschte die Zähne und machte einen Lärm, als müsse er eine ganze Meute vortäuschen. Die Haustür ging auf, ein großer älterer Mann mit verschlafenem Gesicht und verstrubbeltem Grauhaar erschien und fragte „Oui?“
„Tag, Herr Gebweiler, ich bin’s, der Förster-Franz.“
Das Gesicht des Alten war plötzlich wach, die Augen wurden hell, prüfend.
„Was, der Franz? Wirklich, der Franz. Jo, des isch mer awwer mol e Plaisir. Waldi, blib still! Kumm bei! Kumm bei! So e Plaisir! Madame, loy e Mol, wer do kummt. Der Förster-Franz vom Fuchsloch!“
Ein Fenster ging auf, ein fröhliches Frauengesicht schaute heraus, die Haut glatt wie bei einem jungen Mädchen, als wäre sie 19 und nicht 90, im weißen Haar noch die aus Zeitungspapier gedrehten Papilloten.
„Jo, der Franz. Willst Dir auf Deine alten Tage noch die Ohrfeige abholen dafür, dass Du mir die Äpfel geschüttelt hast statt gerupft und ich habe alles einkochen müssen statt in’s Stroh legen für Weihnachten?“
Der Alte beschwichtigte:
„Scho gut, Madamche, scho gut. Das ist doch altes Zeug. Aber da siehst Du mal, Franz, mit was ich gestraft bin. Die hat einen Kopp wie ein Ackergaul, die vergisst nie was. Nie!“
Inzwischen waren sie in die Diele getreten. Madame deckte schnell den Tisch, brachte schönen schwarzen duftenden französischen Kaffee, dazu Brot, innen schneeweiß, außen mit einer dunkelbraunen krachenden Kruste, ein Brot, das auch ohne die mit aufgetischte frische Butter und die Mirabellenmarmelade schmeckte. Dazu gab es einen Begrüßungsschnaps, einen mindestens 10 Jahre alten selbstgebrannten Quetsch, als Madame einmal draußen war, einen zweiten und dritten dazu.
Bevor Franz über sein Anliegen sprechen konnte, musste er erst einmal umfassend Auskunft geben, wie’s geht’, wie’s steht’, wie’s denen und jenen geht, ob celle und celler noch leben, was die macht und was der und so weiter und so fort. Zwischendurch protestierte Madame einmal, als er Frau Gebweiler sagte, sie sei immer noch die tante Marie und der Monsieur der oncle George, so wie früher auch, compris?
Als Onkel Schorsch zum Wein übergehen wollte, lehnte Franz ab, er müsse noch heimfahren und wolle nicht von einem Gendarme zum alcotest gezwungen werden. Tante Marie wollte wissen:
„Warum bist allein kommen?“
„Ich bin Witwer, die Kinder leben weit von zu Hause weg, mit wem soll ich da kommen?“
„Allein bist? Kein Hund daheim? Mon dieu! Kein Viehzeug sonst?“
„Nein.“
„Dann blibst do!“ sagten beide wie aus einem Munde.
Protest ließen sie nicht zu.
Madame räumte den Tisch ab, Monsieur holte die erste Flasche Otrotter Rouge und Franz konnte endlich erklären, weshalb er gekommen sei.
Der alte Forstmann wiegte den Kopf und meinte: „Do horch! Dohin isch der verschdeckelt!“
„Du weißt also, wer der Tot ist?“
„Non, non! Mais, c’est incroyable! Nit se fasse. No so langer Zitt.“
«Offensichtlich hast Du aber eine Ahnung, wer er sein könnte.
„E Ahnung, ja. Pass’ auf“.
Und er erzählte, nach der Invasion 1944 haben die Amerikaner auf einmal Flugplätze gehabt, von denen aus auch Flieger mit kleinen Tanks haben fliegen können. Ab da waren die Jabos am Himmel, vom morgens Hellwerden bis abends vor’m Dunkelwerden. Und die Sauhund haben auf alles geschossen, was sich bewegt hat, ob das Militär war oder eine Bäurin auf dem Feld, ob das Kinder waren oder Geißen auf der Weide, auf alles haben die geschossen.
Und weil nicht genug Abwehr da war, hat man die Hitlerbuben, die wo noch in der Schule waren, zur Heimatflak einberufen samt mit den Lehrern. Die haben Unterricht machen sollen, wenn kein Fliegeralarm war. Meist war aber immer.
Dann gestand er, dass er selbst Flakbube gewesen war, denn Elsaß-Lothringen war damals deutsch gewesen.“
„Eigentlich hätten mir Karlsruhe vor den Bombern schützen sollen, aber mir hatten ja nur die dünne Berta, so haben wir unser 2 cm leichtes Flakgeschütze genannt, die hat gar nicht so hoch schießen können, wie die Bomber geflogen sind. Die Flak war den ganzen Westwall entlang vom Rhein bis an die Berge stationiert. Wir waren die letzten, ganz im Westen, auf dem Kaiser-Wilhelm-Stein, grad an der Grenze. Da haben sie uns raufgesetzt.
Aber unsere Schießhöhe war auch dort noch zu niedrig.
Dann haben die Jabos angefangen, bis ins Tal reinzufliegen, hinterm Ringsberg gedreht und retour Richtung Rhein.
So einen müssen wir kriegen, haben wir uns geschworen.
Und wir haben’s geschafft. Mit einem Treffer! Ein Schuss“!
Madame war hereingekommen und hatte den letzten Satz gehört.
„Do horch! Ein Schuss! Dodebei kommen die jed’s Johr um die Zitt zamme bi uns, die Kanoneschießer, un dann geht’s los, jeder Schuss ’n Schnaps. Dann stehen se stramm, die Esel, die alte, un singen ‚Es zittern die morschen Knochen’, und dodebei zittern die längscht nimmer, die krachen schon, aber ‚Hoch das Glas’ dass’d könnscht meine, numme sie allein hätten den Krieg gewonnen. Un jetzt sagt der mit einmol: ‚Ein Schuss!’ Der schöne viele Schnaps!“
„Madamche, ein Schuss numme hat getroffe. Aber viel Schuss han mir misse mache für um zu treffe. Alors, viel Schuss, viel Schnaps.“
Madame ging und knallte die Tür zu.
„Jetzt hast du Dich verraten, Onkel Schorsch.“
„Na, das macht nix. Das ist numme der Geiz wegen dem schönen Mirabell. Bis die wieder kommen, hat sich das gelegt.“
„Aber jetzt mal bitte genau. Wie war das mit dem Treffer?“
„Also, das war kurz nachdem sie die Maide vom Arbeitdienst zur Flak geholt haben für die Scheinwerfer zu bedienen. Na, und wenn am Tag kein Alarm war, dann waren wir bei denen oder die bei uns. Die waren älter, von denen haben wir was lernen können.
Dann gibt’s Alarm, schon morgens, wir an die Berta, da kommt ein Jabo, eine Spitfire, ziemlich tief vorbei und dreht. Ich habe mir genau die Höhe gemerkt und gesagt, runter mit dem Rohr, wenn er noch mal kommt, haben wir ihn. Wir kurbeln, ich visiere, da kommt er schon zurück und schießt in den Wald, wo die Weiber beim Grasrechen waren. Und wie der dort schießt, schrei ich ‚Feuer!’ und los und wir treffen ihn und sofort hat es geraucht und er hat hochgezogen Richtung nach draußen und ganz oben ist der Pilot dann raus mit dem Fallschirm oder auch der Fallschirm allein, wir wissen das nicht genau, denn wir haben nach dem Flieger geguckt, wie der abstürzt. Wir haben geschrien und sind gehupft und haben gebrüllt’ Mir han ne verwischt! Mir han ne verwischt!’
Dann haben wir’s nach oben gemeldet mit dem Feldtelephon und da war der Sawitzki dran, ein alter Feldwebel aus dem ersten Krieg, und der hat gesagt: „Wenn das der Kaiser hört, kriegt Ihr das Eiserne Kreuz.“
Jo, es war eine große mariage um uns und auch ohne Kaiser hat man uns das Eiserne Kreuz versprochen, bloß, gekriegt haben wir es nicht mehr.
Ja, und der Flieger ist in die Wingerte gestürzt und total ausgebrannt. Ob der Pilot noch hat aussteigen können? Wir wissen’s nicht. Vielleicht ist es der, der bei Dir im Graben gelegen hat.“
„Aber wie ist der da hingekommen?“
„Auf den eigenen Füß nicht. Und selber zugedeckt hat er sich bestimmt auch nicht.“
„Ihr habt doch damals im Forsthaus gewohnt.“
„Da waren wir schon weg. Der Vater war abkommandiert worden, da ist die Mutter mit den Geschwistern heim zu ihrer Mutter. Numme ich war noch da, aber im Westwallbunker, nicht im Forsthaus. Das war abgeschlossen und der Schlüssel lag beim Forstmeister.“
„Aber es muss doch aufgefallen sein, dass der Splittergraben zugeschüttet worden war.“
„Bub, Du hast halt keinen Krieg nicht mitgemacht. Da war doch der Westwall und die Maginotlinie, dazwischen Splittergräben und Bombentrichter und private Bunker von denen, die keinen Keller im Haus hatten. Meinst Du, da hat sich einer drum gekümmert, ob so ein Loch offen war oder zugeschüttet? Außer nach einem Bombenangriff hat sich da keiner gekümmert.“
„Der Müller Jean hat mir gesagt, sie haben den Aushub als zusätzlichen Schutzwall gegen die Flugrichtung aufgehäuft. Wenn man nun eine Leiche in die Grube legt und den alten Grund darüber gibt, muss, selbst wenn man stampft, noch etwas übrig bleiben, also einen Hubbel bilden. Hier war aber sogar noch Bauschutt mit verfüllt worden.“
„Also, erstens mol, wie die den Splittergraben ausgehoben haben, waren wir noch im Haus. Glaubst Du, die Mamme hätte zugelassen, dass der Mutterboden versaut wird, wo die Schicht sowieso ganz dünn ist draußen am Wald? Die hat den schön im Garten verteilen lassen. Drunter ist nur noch reiner Sand. Den kannst Du schön aufsetzen, dann kommt der Wind und treibt und bläst einen Teil weg, dann kommt der Regen und schwemmt ein bisschen mehr weg und auf einmal langt’s hinten und vorne nicht mehr. Grab’ doch mal ein Loch in Deinem Garten und lass’ den Bau zwei Wochen liegen, dann kriegst Du’s nie wieder voll.“
„Gut, aber woher kommt der Bauschutt?“
„Das Forsthaus liegt doch wie auf dem Präsentierteller, das haben die Jabos immer wieder beschossen. Ganze Löcher haben sie aus der Wand gebollert. Das kannst du nicht wissen, weil, wie Ihr nach dem Krieg eingezogen seid, war alles wieder repariert und verputzt. Bauschutt war also das einfachste, um das Loch zuzumachen.“
Sie schwiegen eine ganze Weile. Schorsch ging, um eine neue Flasche aus dem Keller zu holen. Franz grübelte vor sich hin. Irgend etwas hatte der Alte gesagt, was nicht in das bisher Ermittelte passte.
Was war das nur gewesen?
Hinter ihm ertönte das ‚Plopp’, als der Korken aus der Flasche flutschte.
„Piiiiiie hat die Spitfire gemacht, als sie anflog, und Iiiiijaaau, als sie nach dem Treffer hochgejagt ist, und wahrscheinlich plopp, als sie runterkam. Gib Dein Glas her, eine schaffen wir noch.“
„Spitfire! Bist Du sicher, dass es eine Spitfire war?“
„Natürlich. Spitfire IX, Supermarine, über 650 km schnell, kann hoch, mittel und nieder operieren. Absolut sicher. Wir haben doch alle Typen gekannt.“
„Dann war es ein englisches Flugzeug. Wurde das auch von Amerikanern geflogen?“
„Nie! Umgekehrt ja, die Tommys haben auch fremde Maschinen geflogen, aber es wäre einem Amerikaner doch nie eingefallen, einen Tommy zu fliegen. Die hatten doch selbst mehr Flugzeuge als alle anderen zusammen. Nää, nie, jamais!“
„Dann kann der Tote kein Amerikaner gewesen sein. Man hat aber das Hauptquartier der Ami’s in Heidelberg eingeschaltet, weil man gar nicht auf die Idee gekommen ist, dass es kein amerikanischer Pilot gewesen sein könnte.“
„Da musst Du halt jetzt einmal wo anders bohren.“
„Ihr müsst doch darüber geredet haben, was mit dem Piloten geschehen ist. Das Flugzeug ist verbrannt, das ist sicher. Von einem Fallschirm war bisher nichts bekannt. Der müsste doch auch irgendwo aufgetaucht sein.“
„Vielleicht ist der abgetrieben worden und in einem anderen Dorf runter. Wenn die den gefunden haben, halten die bis heute das Maul, da kannst du sicher sein.“
„Meines Wissens war es bei schwerer Strafe verboten, vom Feind stammende Gegenstände zu behalten. Wie passt das?“
„Bub, Du warst nicht im Krieg! Ein Fallschirm, das waren Quadratmeter von Seide. Und viele Frauen hatten nach 5 Jahren Krieg nur noch Fetzen als Kleider. Jetzt lang’ Dir mal an den Kopf und denk’ nach! Frag’ die Allerältesten, auch in den Dörfern rundum. Wenn Du was erfährst, komm wieder. Wenn ich was höre, sag’ ich Dir’s. Außerdem fahre ich bald mal rüber, dann rede ich selber mit ein paar alten Freunden.“
Madame kam herein und sagte:
„Allez hopp, ab ins Bett, Ihr habt genug gesüffelt. Vier Flasche. Mon dieu! Und wenn’d meinst, Du fährst allein rüber, hast Dich getäuscht. Ich hab’ auch Freunde drüben, die ich fragen kann. Aber, z’erschd ruf die ‚Morsche Knoche’ an, die sollen ihre Saufköpp anstrengen denooch wie’s war.“
Lange lag Franz noch wach, versuchte die einzelnen Teile dessen, was er bisher wusste, neu zusammenzusetzen, ohne zu einem rundum logischen Ergebnis zu kommen. Dann fiel er in einen unruhigen Schlaf, wachte dennoch mit klarem Kopf auf, als Madame an die Tür klopfte und rief:
„Uffstehn! ’s isch Zitt für alte Suffköpp!“
Aus der Küche kam schon wieder der Duft nach starkem Kaffee, es gab Gugelhupf und Kranzkuchen und als Madame wegschaute, einen Mirabell in den Kaffee.
Beim Abschied überreichten die beiden ihm einen Korb mit, vollgepackt mit hausgemachter Marmelade, einem Ranken Brot, den restlichen Gugelhupf und ein Stück Kranzkuchen. Onkel Schorsch schob ihm heimlich noch eine Flasche altgelagerten Mirabell zu. „Au revoir, Franz. Des war e Plaisir. Au revoir. Au revoir. Et bonne voyage. Mir kumme ball!”
Lange sah er im Rückspiegel sie noch am Zaun stehen und winken.
Wie gut, dass er hergefahren war.
Zu Hause fand er zwischen den Päckchen im Korb einen Zettel von Madame, auf dem sie Namen notiert hatte, unter anderen von Leuten, von denen er nie geglaubt hätte, dass diese je etwas hätten wissen können.
*****
Am nächsten Morgen nahm Franz den Zettel vor, den Madame ihm zugesteckt hatte, drei Namen aus dem Dorf, vier vom Nachbarort.
Mit den ersten dreien hatte er Pech, eine Frau war inzwischen verstorben, eine weitere lag krank und konnte zur Zeit nicht befragt werden und die Bas Marie lebte, wie schon angedeutet, verwirrt und alzheimerkrank im Altersheim.
Dagegen war bereits die erste Adresse im Nachbardorf ein Volltreffer. Zwar war die alte Dame erst aus dem Krankenhaus gekommen, aber die Tochter wusste recht gut Bescheid, wie man sie zum Reden bringen konnte.
„Ich war dabei. An dem Tag waren die Jabos wie die Hornissen so wild. Bei Euch drüben haben sie ja einige abgeschossen. Sie haben aber auch einen getroffen, der ist abgestürzt und da ist auf einmal ein Fallschirm runter gekommen. Die Mamme und ich und noch ein paar waren gar nicht weit davon in einem Rübenloch gehockt, und als die Jabos zwischendurch Pause gemacht haben, ist die Schmitten heimgerannt, eine Schere holen, dann haben wir den Schirm schnell auseinandergeschnitten und gerecht verteilt, auch die Seile, dann rein in’s Wägelchen und Weißgras drüber und heim.
Ich war damals grad so 17 aber schon mit dem Hans einig, der war an der Wesfront schwer verwundet worden und lag in Landau im Lazarett. Er ist auch gleich nach dem Krieg heimgekommen, weil, ein Gefangener mit einem abbenen Bein kostet nur Geld und bringt nichts ein.
Es war überall wenig richtige Arbeit da, aber wer schwerbeschädigt und auch noch verheiratet war, hat gleich was gekriegt. Da hat die Mamme aus dem Fallschirm schnell ein Kleid genäht und ich war die erste nach dem Krieg mit einem richtigen weißen Hochzeitskleid in der Kirche. Der Hans noch mit Krücken, weil es keine Prothesen gab, aber weil er beim Barras auf der Schreibstube war, haben sie ihn auf’s Rathaus genommen. Da hocken ja noch mehr, die was ab haben, da hat er hingepasst und heute haben wir eine schöne Pension.
Aber jetzt Achtung.!“
Sie holte aus dem Nachbarzimmer ein etwas altmodisch-bieder geschneidertes Hochzeitskleid aus reiner Fallschirmseide und zeigte es ihm voller Stolz.
Franz meinte:
„An dem Fallschirm muss doch einer gehangen haben. Habt Ihr niemanden gesehen?“
„Nein. Als die Jabos aufgehört hatten, überall herumzuspritzen, war der Fallschirm einfach da. Wenn einer drangehangen hat, ist er bestimmt in den Wald gerannt. Von uns hat niemand nichts gesehen.“
Franz bedankte sich, hinterließ beste Genesungswünsche an die noch kranke Mutter und machte sich auf den Weg zur nächsten Adresse. Dort hing ein Zettel an der Klingel: ‚Bin bald zurück.’
Also zog er ein Haus weiter. Weder dort noch im nächsten konnte oder wollte man sich erinnern. Also schlenderte er zur zweiten Adresse zurück. Die Hausfrau war inzwischen tatsächlich zurück gekommen und Franz wurde nochmals fündig.
„Die Mutter war dabei und ich hab’ davon mein Sonntagskleid gekriegt zur Konfirmation 1946. Ich und die Liesel und die Erika, wir waren die einzigen, die an der Konfirmation mittags weiße Kleider hatten und nicht nur schwarze wie die anderen.“
Liesel und Erika gehörten zu den Familien, in denen angeblich niemand etwas wusste.
„Wollen Sie das Kleid sehen? Ich hab’s noch. Es ist unverwüstlich. Meine zwei haben’s zu ihrer Konfirmation auch getragen.“
Sie brachte ein Kleidchen herbei, raffiniert schlicht und zeitlos elegant geschneidert. Es war aus reiner Fallschirmseide.
Eine hochbetagte Frau kam herbeigeschlurft, misstrauisch und unmutig, weil er hinter ein Familiengeheimnis gekommen war.
„Woher weißt Du eigentlich von uns?“
„Ich war beim alten Förster Gebweiler, da hat seine Madame mir die Adresse gegeben.“
„Die Marie? Lebt die noch? Warum hört man von denen nichts mehr? Wir waren doch immer gut Freund zusammen gewesen
Franz versprach, falls die beiden ihn besuchen würden, käme er mit ihnen vorbei, bonjour sagen.
„Das gibt eine Plaisir. Noch was. Ich ging’ mal zu der Mayer Marie. Unbedingt.“
Auf seinen Hinweis, er sei dort gewesen, sie sei verwirrt, habe wahrscheinlich Alzheimer, lachte sie nur:
„Die und Alzheimer? Die alt Hex. Das ist doch bloß vorgeschoben, weil sie ihre Ruhe haben will vor ihrer Sippschaft, weil, die will nur an ihr Geld. Also, ich ging’ noch mal hin.“
Franz bedankte sich herzlich.
Ein paar weitere Mosaiksteinchen waren gefunden.
*****
Gleich am darauffolgenden Tag fuhr er noch einmal nach Neustadt. Ein Pfleger begleitete ihn zu der alten Dame beugte sich zu deren Ohr und rief:
„Hallo, Frau Mayer. Hören Sie mich?“
„Yes, Sir.“
Der Pfleger lachte und meinte leise zu ihm:
„Sie schaut zu viel Soaps.“, und wieder sehr laut zu ihr: „Sie haben Besuch. Ein Herr. Ein Schändelmänn für die Schändellädy.“.“
Die Alte schaute hoch, ihre Augen blitzten kurz auf, dann senkte sie den Kopf, machte eine abwehrende Handbewegung und sagte:
„Danke, Schääms.“,
und mit einer einladenden Handbewegung zu Franz:
“Bließ.“
Er setzte sich.
„Kennt Ihr mich wieder? Ich bin der Förster-Franz.“
„Was willst?“
„Ich war schon zwei Mal hier, erinnert Ihr Euch?“
„Was willst?“
Geduldig begann er, seine Geschichte von neuem vorzutragen.
Die Alte unterbrach ihn gelegentlich, indem sie mit der Puppe redete und ihr Kinderverse sang.
„Hörst’, Liesel, die haben einen gefunden.
‚Heinerle, versteckel Dich, In den grünen Bohnen,
Wenn der Kaiser Wilhelm kommt, Schießt er mit Kanonen.’“
„Hörst, Liesel, ein Flieger war’s.
‚Maikäfer flieg,
Dein Vater ist im Krieg.
Dein Mutter ist im Pommernland,
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer flieg.’“
„Hast gehört, Liesel? Kein Amerikaner, meint er.
‚Denn wir fahren,
Denn wir fahren,
Denn wir fahren gegen Engeland.’“
Plötzlich stand sie auf und begann sich auszuziehen. dabei sang sie:
„Schön sind die Heckenrosen,
schön sind die Mädchen ohne Hosen …’“
Eine Pflegerin kam angerannt.
„Jetzt fängt das wieder an. Gehen Sie, kommen Sie ein anderes Mal wieder.“
„Was fängt an?“
„Immer, wenn ihr etwas gar nicht passt, wird sie unflätig und beginnt sich auszuziehen, vor allen Leuten, ohne Scham. Dabei weiß sie ganz genau was sie tut, die alte Hexe. Frau Mayer! Bitte! Lassen Sie die Kleider an!“
„Ich muss mich doch ausziehen, sonst reißen mir die Sauhund alles herunter.“
Plötzlich blitzten ihre Augen wieder klar und sie sagte zu Franz:
„Lass’ endlich die Finger von der Sach’! Tote soll man ruhen lassen. Was vorbei ist, ist vorbei!“
Dann sank sie in ihrem Sessel zusammen, wiegte ihr Püppchen und sang etwas von Bomben auf Engeland.
Die Pflegerin winkte ihm, er solle sie jetzt alleine lassen.
Im Davongehen hörte er, dass sie nicht gerade salonfähige Wörter hinter ihm herrief.
*****
Franz hielt auf dem Rückweg beim alten Müller Jean an, um ihn zu fragen, was an Maries Zustand schuld sein könne. Der meinte ganz verwundert:
„Weißt Du das noch nicht? Die war doch Oberhäuptlinging in der NS – Frauenschaft. Das war so was wie eine Weiber-SA. Sie hat die Hitlerfahne nicht rechtzeitig verbrannt, die Marocs haben die gefunden, deshalb haben sie sie rangenommen. Die ganze Kompanie, wird gesagt. Dann ist sie noch in Gefangenschaft bei den Franzosen gewesen. Die hasst alle Männer wie die Pest. Man munkelt auch, in der Kaserne sind auf einmal eine ganze
Reihe Marocs gestorben, weil sie was Falsches gegessen hatten. Sie war damals dort in der Küche. Aber nix Genaues weiß keiner nicht. Die Franzosen hatten anscheinend keinen Verdacht. Vielleicht war sie’s auch wirklich nicht. Schließlich haben sie den Koch verhaftet und der ist nie wieder gekommen. Ich weiß das, ich habe nämlich mit meinen Kameraden für die Franzosen Holz machen müssen damals.
Sie ist irgendwann wieder heimgekommen und war eine Hex und sie ist eine Hex geblieben bis heut’, die an niemand auch nur einen guten Fetzen lässt.“
Seine Frau kam aus der Küche.
„Männer! Was versteht Ihr schon. Die Marie ist die ärmste Sau im Dorf trotz ihrem vielen Geld. Und wenn sie die wirklich umgebracht hätt’, dann hätt’ sie ein gut’ Werk getan. Die waren doch schlimmer wie das Vieh. Als kleines Kind habe ich stehen und zugucken müssen, was sie mit der Mutter gemacht haben. Die sollen heute noch verrecken samt Kindern und Kindskindern, die Sauhund, die elenden.“
*****
Am Wochenende, Franz arbeitete gerade in seinem Garten, tuckerte ein uralter Talbot die Straße herauf und hielt vor dem Forsthaus an. Es war Schorsch Gebweiler mit seinem Madamchen.
„Bonjour, Franz, do sinn mer.“
„Ja, so was, so ganz ohne Vorwarnung? Und wenn ich nicht daheim gewesen wär’?“
„Da hätt’n wir halt gewart’ bist kommst.“
Die beiden krabbelten mühsam aus dem Wagen, reckten und streckten sich erst einmal.
„Die morsche Knoche“ meinte Madame.
Franz richtete schnell ein Imbs, kochte Kaffee und sagte dann:
„Ich habe bei Euch übernachten müssen, also müsst Ihr jetzt bei mir über Nacht bleiben, meinetwegen ein paar Tage.“
„Wo denkst hin. Der Waldi ist allein. Der hält’s höchstens einen Tag aus ohne uns.“
„Gut, dann bleibt Ihr wenigstens bis Morgen.“
Inge kam vorbei. Das war nicht abgesprochen, aber Franz war direkt erleichtert, denn er bat sie, ihm ein wenig helfen, das Fremdenzimmer herzurichten, schließlich waren die Spuren des Umbauens noch lange nicht alle beseitigt.
Während Inge sich an die Arbeit machte, schmunzelte Gebweiler:
„Allein. Kein Hund und nix daheim. So hast doch g’sagt, hä?
„Inge ist eine Bekannte, eine ehemalige Kollegin, sonst nichts.“
„Bloß Kollegin, aber ’s Mailde weiß, wo d Bettwäsch sitzt. Wenn’s stimmt, was’d sagst, bist selber schuld. Dummheit muss bestraft werden. Merk’ Dir das.“
Madame meinte tadelnd:
„Alter Schwätzkopp. Das gehr Dich doch nix an. Aber so sinn Männer, wenn se ’n Rock sehen, setzt d’ Verstand aus, und wenn se noch so alt sinn. Toujour la même chose!“
„Madamchen, bist net froh, dass mir bei Dir der Verstand ausg’setzt hat?“
Das Geplänkel zwischen den beiden ging noch eine ganze Weile so weiter, bis Inge kam und sich zu ihnen setzte.
Franz wollte eine Flasche Wein öffnen, aber Madame verbot es ihm direkt:
„Nix do. Am Morgen schon süffle gibt’s net. Wie ich Euch kenn’, kriegt Ihr uff de Abend noch mehr als genug. Wir müssen schließlich noch zu de Leut heut. Vergesst das net.“
„Jetzt geht Ihr erst mal rauf und horcht in Euch rein. Und wenn Ihr dann die Augen wieder aufmacht, gibt’s Mittagessen.“
Madame wehrte ab:
„Nix Mittagessen. Vesper reicht. Schorsch, hol mal den Korb aus dem Auto.“
Als Inge sah, was alles da heraus ausgepackt wurde, überlegte sie blitzschnell, ob sie sich nicht krank melden sollte. Aber Dienst ist Dienst, Franz hätte kein Verständnis dafür gezeigt.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen sagte er:
„Komme morgen zum Frühstück und zum Mittagessen kannst du auch noch bleiben.“
Gebweiler zwinkerte ihr zu:
„Und wenn’s zum Nachtmahl bleiben, hat er bestimmt auch nix dagegen.“
Inge wurde rot und verabschiedete sich rasch.
*****
„Onkel Schorsch, wie seid Ihr denn eigentlich in’s Fuchsloch gekommen? Zwischen Deutschland und Frankreich war doch eine nur schwer zu überwindende Grenze, das weiß ich doch noch.“
„Also, Ihr Junge, Ihr wisst wirklich nix. Für was wart Ihr denn in der Schule? ’40 hat Frankreich verloren und man hat Elsaß-Lothringen heim geholt in’s Reich. Und damit man sich wieder aneinander gewöhnt, wurden Westmärker nach Lothringen und Lothringer in die Westmark versetzt. So sind wir aus der Saarburger Gegend in’s Neurott gekommen. Ich denk, Du weißt wenigstens, was draus geworden ist. Bloß wie weißt nit.“
Dann begann er zu erzählen.
Weil der alte Gebweiler noch in der deutschen Zeit vor 1918 Förster geworden war, galt er als zuverlässig und wurde deshalb in das Austauschprogramm mit einbezogen. Das hat er später büßen müssen, denn nach der Rückgliederung hat er von den Franzosen Berufsverbot und Provinzverbot bekommen. Die Familie durfte nicht nach Lothringen zurück. Der Vater fand dann eine Stelle als Waldhüter in einem Privatwald im Krummen Elsaß, dort hat er gerade so viel verdient, dass es reichte.
„Das ist wichtig, dass Du das weißt, sonst verstehst Du das Weitere nicht. Ich war bei der Hitlerjugend, wie alle von meinem Jahrgang, und bei der Heimatflak, das war später bei den Franzosen ein Verbrechen. Unsere
Lehrer haben uns in der Stellung noch das Notabitur gegeben, das hat in Frankreich natürlich nicht gegolten. Für den Staat war ich mit ohne Schulabschluss. Patres haben mich in eine private Lehranstalt aufgenommen, wo ich der einzige Protestant zwischen lauter Katholiken war. Dort konnte ich in kürzester Zeit das Bac erwerben. Ich kam zu den Eltern zurück, wurde noch in der Nacht aus dem Bett geholt und zum Militär gesteckt. Die haben mich schnellstens mit anderen Unzuverlässigen ab nach Indochine geschoben. Drei Jahre musste ich durchhalten, denn das war Voraussetzung, dass ich, wie der Vater, Förster werden durfte.“
„Wie hast dann Du es geschafft, auch an die Grenze in’s Forsthaus Neurott zu kommen?“
„Na ja, mir kenne uns. Frag nit wittersch.“
„Hast Dich deshalb so gut mit meinen Vater verstanden, weil Du das alles hier erlebt hast?“
„Du weißt wirklich nix. Aber ruhig, ’s kummt.“
„So, jetzt erzähle, wieso Du mit Vater so gut ausgekommen bist.“
„Loy emol, ’s gibt doch grad im Wald so viel Probleme, die an der Grenze nicht halt machen. Wenn bei Euch die Maikäfer kumme, fressen die Viehcher auch unsere Bäume kahl. Wenn bei uns die Saupest kommt, trifft’s auch Euer Wild. Wir, Dein Vater und ich, wir haben Lösungen gefunden, dazu haben die hohen Herren in Paris und Bonn Jahre gebraucht, um wenigstens einigermaßen dahin zu kommen, wo wir schon lang waren.
Par exemple.
Die Waldgrenze geht ziemlich im Zickzack, Was machst Du, wenn’s brennt. Eure Feuerwehr geht bis zur Grenze und dann lässt sie’s brennen? Und die Pompiers machen es genau so? Dann haben wir bald beide keinen Wald mehr.
Aber die Idioten oben meinen, das muss so gehen. Il sont fou, ces français d’interieur!
Einmal, im Sommer, ’s war schlimm, Pompiers aus allen Dörfern von hüben und drüben haben nebeneinander gekämpft. Da kommen auf einmal drei Gendarmes mit ihren Motorrädern auf die Lichtung, ’s waren Franzosen aus dem interieur und die sehen deutsche Feuerwehrautos. Da haben sie gebrüllt, das ist Grenzverletzung, haben die Pistolen gezogen und sind auf die Leute los. Niemand weiß, wie so etwas möglich ist, die Flamme springt ganz plötzlich 300 m über die Wiese weg mitten in die Motorräder und die stehen sofort in Flammen. Die Gendarmes schreien wie verrückt, einer will einem Deutschen den Schlauch wegnehmen, aber der macht mit dem Schuh einen Strich auf den Boden und sagt: ‚Nix. Grenze. Frontière, compris?’ und spritzt weiter in’s Feuer. Und die Gendarmes waren auf einmal fuite und weit im Wald drinnen und weg..
Es hat später eine Mordsuntersuchung gegeben, aber wir haben alle nix gewusst. Dass wir das so haben machen können, war nur, weil wir uns alle kennen rüwwer und nüwwer. Außerdem sind doch viele auch miteinander verwandt. Was will da einer machen aus dem interieur?“
*****
Als die Lothringer wieder abgefahren waren, ohne Wesentliches von ihren früheren Freunden erfahren zu haben, versuchte Franz weiter, in den Kirchenarchiven der umliegenden Dörfer Hinweise zu finden.
Vergebens.
Auch die Versuche, aus den Ältesten etwas herauszukriegen, war vergeblich.
*****
Franz reiste für einige Tage nach Greifswald. Er brachte die meisten der von seiner Frau im Laufe der Jahre zusammengetragenen Bücher zu seinem Sohn, der dort Assistent an der Universität war, weil er nicht wollte, dass die zum Teil kostbaren Werke eines Tages aus Unwissenheit verloren gehen könnten. Er hatte für diese Art Literatur, die sie geliebt hatte, keine Verwendung.
Lore war tot.
Sie würde nicht mehr zurückkommen.
Er aber war noch da.
Er fühlte sich auch gesund, wollte noch lange leben, aber als alter Polizist wusste er, wie schnell es zu Ende sein konnte. Und da er nun als Pensionär in seinem letzten Lebensdrittel angekommen war, wollte er sein Leben nicht nur dadurch neu ordnen, dass er in seine alte Heimat zog, er wollte auch auf andere Art einen Strich unter die Vergangenheit ziehen.
Am Wochenende war er zurück. Er wollte in aller Ruhe den Umzug planen. Inge hatte Urlaub, den sie zu Hause im Westrich verbringen wollte.
Am Sonntag Abend stand sie plötzlich vor der Tür.
„Nanu, was ist denn los? Du wolltest doch heimfahren.“
Inge trat in die Diele und setzte sich.
„Ich war auch da. Ich komme heim, klingle, da macht mein Vater die Tür auf, er hat schon den Mantel an und sagt: ’Jetzt hast Du uns die Überraschung verdorben.’ Sie waren auf dem Weg nach Mallorca und wollten mir von dort eine Karte schicken. Als Überraschung. Meine Mutter sah sofort das Praktische und sagte ’Wenn Du schon da bist, dann kannst Du uns auch an den Flugplatz in Saarbrücken bringen, dann können wir die Fahrkosten sparen, und dann, falls Du hier bleiben willst, dann gieße die Blumen, dann braucht es die Tina nicht zu machen’. Tina ist meine Schwägerin.
Was sollte ich tun? Ich brachte die beiden zum Flughafen, drehte um und raste hierher zurück. Und da bin ich.“
Sie legte den Kopf auf den Tisch und begann zu weinen, laut, heftig, ließ sich durch nichts beruhigen.
Plötzlich fühlte sie, dass noch jemand im Raum war, jemand Fremdes, für sie Gefährliches. Sie hob den Kopf. Eine schlanke, hochgewachsene Frau stand vor ihr.
Eine fremde Frau, die sie abschätzend musterte, ihr dann spontan die Hand hinhielt und sagte:
„Ich bin Franziska.“
„Meine Tochter“, stellte Franz sie vor.
Seine Tochter!
Eine Frau in ihrem Alter.
Zwar wusste sie, dass Franz Kinder hatte, aber in ihrer Vorstellung waren Kinder eben Kinder und nicht erwachsenen Menschen.
Franziska legte ihr die Hand auf die Schulter und meinte:
„Komm’ mit in’s Bad.“
Die beiden verschwanden und ließen Franz irritiert zurück.
Nicht nur Inge, auch ihm war ihr Altersverhältnis erst in diesem Augenblick bewusst geworden.
Franziska schien das nicht zu stören.
Er kannte seine Tochter, sie hatte Inge akzeptiert, das zeigte ihr Verhalten.
Sie hatte Inge akzeptiert und Inge anscheinend Franziska, denn er hörte die beiden im Bad lebhaft miteinander reden und lachen.
Auf einmal war ihm ganz leicht um’s Herz.
In der darauffolgenden Woche leerten sie gemeinsam die Wohnung in Mannheim, gaben den größten Teil der Einrichtung als Spende in das Möbellager der Kirche, packten nur das ein, was Franz tatsächlich mit in das Forsthaus nehmen wollte.
*****
Im Dorf traf er Müller Jeans Frau. Die meinte unvermittelt:
„Franz, ich darf doch noch Franz sagen, gell, also, Franz, die Marie, der ist es in ihrem jungen Leben mehr als wie schlecht gegangen. Sie war die Tochter vom reichen Mayer, das war ein sturer Hund, der hat sie sein lebenlang drangsaliert. Aber weil sie die reich Mayern war, hat sie auf die Oberschule gemusst. Die erste und einzige aus dem Dorf. Dort ist sie in’s BDM, da haben die hier noch gar nicht gewusst, was das ist. Später hat sie dann hier die Jungmädel und dann das BDM gegründet. Sie ist dann zum Arbeitsdienst, war dort Führerin, und wie der Krieg dann war, ist sie zu den Blitzmädchen gegangen. Sie war in Russland im Einsatz und ist von dort schwer verwundet zurückgekommen. Soviel weiß ich. Sie hat dann, als es wieder ging mit ihr, hier für die NSV gearbeitet und war deshalb UK gestellt. Ja, und dann ist ihr das mit den Marocs passiert. Wie allen Weibern hier. Aber sie hat’s halt besonders getroffen. Seither ist sie bloß noch ein Bündel Hass. Hass gegen alles.
Was ich da erzählt habe, weiß ich von meiner Mutter. Die hat manchmal im Vertrauen zu mir geredet, weil ich doch dabei hab’ sein müssen und sie hat so Angst gehabt, dass die auch über mich herfallen. Sie hat immer gesagt, sie hat dabei bloß gebetet, dass sie mich in Ruhe lassen. Furchtbar, sag ich Dir. Und ich hab im Eck gestanden und geheult, weil ich gar nicht verstanden habe, was da alles passiert ist.
Eigentlich wollte ich nie Jemanden das sagen. Aber irgendwie, Franz, ich weiß nicht. So, aber jetzt weißt Du’s. Aber nicht von mir. Ich schwör’, dass’d von mir nichts hast. Ich will in nichts reinkommen.
Und sag vor allem dem Jean nichts, der weiß längst nicht alles.
Also, nichts für Ungut, gell., und halt’s Maul.“
*****
Das Gespräch veranlasste Franz, bald erneut zu Marie zu fahren. Dort, im Altenstift, traf er auf den Pfarrer, der die Heimbewohner betreute. Sie kamen in ein Gespräch und Franz erfuhr eine wichtige Neuigkeit:
„Sie müssen darauf achten, was sie singt. Durch ihre Melodien und ihre Texte gibt sie verschlüsselt Nachrichten weiter. Das macht ihr unwahrscheinlich Spaß. Ich habe lange gebraucht, das zu verstehen. Die Pflegekräfte glauben mir bis heute nicht. Aber versuchen sie einmal dahinter zu kommen, in welcher Beziehung eine solches Lied zu Ihrer Frage oder zu dem, was sie ihr erzählen, stehen könnte und sie kommen rasch zu erstaunlichen Ergebnissen.“
*****
Franz suchte den Müller Jean auf.
„Sagt mal, gibt es einen hier, der noch die alten Lieder kennt? Die Texte und die Melodien?“
„Ach Gott, nach so langer Zeit. Ich kann noch das Burenlied singen. Das hat uns ja immer motiviert, als junge Verrecklinge zu glauben, wir wären schon wer.
‚Ein alter Bur mit grauem Haar,
er zog seinen Söhnen voran.
Der jüngste war,
kaum vierzehn Jahr,
er stand schon im Kampf seinen Mann.’
Mit vierzehn Jahr schon ein Mann, ein Kämpfer gegen die Engländer sein, unbesiegbar, das haben sie uns eingehämmert und wir haben es alle geglaubt!.
Wer könnte das noch wissen außer mir?
Der Rheinfrank, vielleicht. der hat ja schon immer Musik gemacht, schon damals im Spielmannszug. Die große Trommel, bloß, aber der kennt zumindest den genauen Takt. Der wohnt aber drüben in der Stadt in der Fußgängerzone. Neben der Drogerie. Sag einen Gruß von mir. Pass auf, der redet nicht viel, schon gar nicht über früher, und Fremde mag er nicht. Aber geh’ hin, ich ruf vorher bei ihm an.
Franz suchte die genannte Adresse auf und klingelte. Am Fenster erschien ein alter Mann mit mächtigem, völlig kahlem Schädel, zwei wasserhellen, wachen Augen, um die Ohren mächtige graue Haarbüschel.
„Ja?“
„Taach. Ich bin der Förster-Franz. Der Müller Jean hat mich angemeldet.“
„So? Komm rein.“
Franz öffnete das Hoftor und glaubte sich in Italien. Die Wände entlang standen Palmen, deren Kübel über und über durch exotischen Pflanzen kaschiert waren. Ein nicht beschreibbarer Duft lag über dem Hof. Zwischen den Pflanzen gab es teils Volieren teils Käfige mit fremdländischen Vögeln, die ein solches Konzert vollführten, dass kein Laut von der Straße mehr zu hören war.
„Mein Gott, wie schön. Wie habt Ihr das geschafft?“
„Wie man so was halt macht. Können muss man und wissen muss man, dann kann einem keiner. Und was willst Du wissen?“
„Es geht um die Mayer-Marie“
„Lebt die alt Hex noch?“
„Ja, im Altersheim. Und sie ist wunderlich geworden. Meist ist sie nicht ansprechbar, aber wenn sie einen lichten Moment hat, dann kann sie noch Fragen beantworten. Aber, sie sagt nicht hü und hott, sie redet drumherum, indem sie ein ihrer Meinung nach passendes Gedicht aufsagt oder ein Lied singt oder zumindest eine Melodie summt. Es sind aber Lieder und Melodien von vor meiner Zeit, wenn Ihr wisst, was ich sagen will.“
„So?“
„Der Müller Jean meint, Sie hätten früher im Spielmannszug gespielt.“
„Im Musikzug. Da spiele ich heute noch.“
„Von den meisten Liedern weiß ich inzwischen, was sie damit hat sagen wollen, von den andren habe ich zumindest eine Ahnung. aber von einem, das wahrscheinlich eine wichtige Aussage enthält, weiß ich nicht, was es bedeuten soll. Sie ist von einem Pfleger mir weggeführt worden. Ich habe nur wenig verstanden, darunter ‚Osten’, ‚Sieg’, aber klar und deutlich ‚Führer befiehl’. Die Melodie war nicht zu identifizieren.“
„War’s so?“ fragte er und begann zu singen, wobei er die Trommel imitierte:
„Freiheit das Ziel, bumm bumm bumm,
Sieg das Panier, bumm bumm bumm,
Führer befiehl, bumm bumm
Wir fol- bumm gen bumm Dir bumm bumm.“
„Könnte sein. Aber was ist mit ‚Osten’ und ‚Sieg’?“
„Als Trommler kümmert man sich nicht um den Text. Außerdem, das ist jetzt ein Menschenalter her. Wer soll das noch wissen?“
„Es hat anscheinend niemand die alten Liederbücher aufbewahrt.“
„Wer hat sich das schon getraut? Es ist doch fast alles weggeschmissen worden, damals.“
„Ihr kennt keinen, der noch etwas haben oder zumindest wissen könnte?“
„Kaum. Aber ich glaube, der Text vorher könnte der gewesen sein:
‚Von Finnland bis zum Schwarzen Meer,
vorwärts, vorwärts, vorwärts nach Osten so stürmen wir,
Freiheit das Ziel’ und so weiter.“
Franz bedankte sich und fuhr gleich weiter zum Altenstift. Er hielt weit vor dem Haus, wollte erst noch ein wenig laufen, die Zeit hinausschieben, bevor er, wie er sich selbst belog, einen allerletzten Versuch machen wollte, den Fall doch noch aufzuklären.
Vor dem Haus begegnete ihm die nette Schwester vom letzten Mal.
„Heute haben sie Glück.“, meinte diese, „Heute ist sie ein bisschen mehr beisammen als sonst. Vielleicht kann sie Ihnen doch noch etwas erzählen. Sie redet eh nur noch von der alten Zeit. Viel Hoffnung dürfen sie sich aber auch heute nicht machen, denn alte Zeit ist für sie die Zeit ihrer Kindheit. Und die liegt nun wahrlich weit zurück“.
Er stieg die Treppen hoch, sah sie schon von weitem, wie sie mit ihrem Gehfrei auf die Terrasse zuschlurfte. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Dann trat er zu ihr. Sie hockte zusammengekauert in einem Sessel, das Gesicht rosig und rund wie bei einem Kleinkind, in den Armen ihre Puppe, zu der sie Unverständliches brabbelte.
Franz stellte sich vor sie hin und sagte:
„Taach, Bas Marie, ich bin’s, der Förster-Franz. Guckt mal, was ich mitgebracht habe. Biskuitbündchen.“
Sie schaute auf, lächelte einfältig, wiegte ihre Puppe und sang:
„Ein Gugelhupf aus Biskuit ist was für reiche Leut’ …“
Dann griff sie zu und brach Stück für Stück von dem Kuchen ab, reichte es erst der Puppe und bröselte es dann in ihren Mund, der noch erstaunlich viele Zähne aufwies. Dabei schaute sie Franz mit trüben Augen unverwandt an, als überlege sie, wer der Mann vor ihr sein könnte.
„Ich bin der Franz, erkennt ihr mich? Der Förster-Franz. Der wo Gendarm geworden ist in der Stadt.“
„Gendarm. Weißt du, Liesel, die Buben spielen immer Räuber und Schandärmels. Und wenn die das spielen, müssen wir Mädle Räuberbraut machen. Ich mit dem Jakob. Aber der ist im Krieg. Da müssen wir immer singen: Maikäfer flieg, der Jakob ist im Krieg, …“
Plötzlich fiel alle Kindlichkeit von ihr ab.
„Du bist doch hier, um über den Krieg zu reden. Hast Du immer noch nicht genug?“
„Bas Marie, wir haben einen Toten in meinem Garten gefunden. Einen toten Engländer. So viel wissen wir. Wir müssen aber herausbekommen, wieso der Mann tot ist und wie er dahin kam. Vermutlich ist es ein Pilot gewesen, dessen Maschine abgeschossen wurde und der sich mit dem Fallschirm retten konnte oder wollte. Dass einer abgesprungen ist, steht fest, denn Pfannenmachers Erika hat noch ein Kleid, das aus amerikanischer Fallschirmseide gefertigt ist. Und alle Älteren im Dorf wissen, dass eine ganze Reihe von Frauen Fallschirmkleider hatten, obwohl das streng verboten war. Und Erikas Kusine hat mir ihr Mittagskleid von ihrer Konfirmation gezeigt, das hat sie noch, das ist eindeutig aus Fallschirmseide! Alle wissen etwas, aber keiner nichts Genaues nicht. Ihr seid jetzt meine letzte Rettung, Bas Marie.“
„Es war ein Pole oder so was, der wo für die Engländer die Drecksarbeit gemacht hat. Er ist abgesprungen. In die Talwiesen. Dann hat er schnell abgeschnallt und ist in den Wald gerannt. Geradewegs dorthin, wo er vorher die Leute erschossen hat. Das hat er nicht gewusst. Bis wir aber in die Wiesen runter konnten, war der Fallschirm längst fort.“
„Und was ist passiert im Wald?“
„Was machst Du, alter Gendarm, wenn Du siehst, dass dir ein Verbrecher Deine Freunde umschießt und plötzlich steht der vor Dir? Sagst Du, komm Lieberle, wir trinken einen zusammen!“
„Nein. Aber was ist dann passiert?“
„Auf ihn drauf! Alle auf ihn drauf! Mit den Rechen und Gabeln und Holzknüppeln und nix wie drauf! Bis er hin war!“
„Erschlagen? Einfach erschlagen? Von unseren Leuten, aus unserem Dorf? Das sind doch alles einfache rechtschaffene Menschen. Wie konnten die das tun? Mit welchem Recht?“
„Warst Du schon einmal dabei, wenn sie neben Dir Kinder erschießen? Grad so Peng-Peng? Die nie und niemand etwas getan haben? Fünf Kinder, die Mutter dazu, und vier andere waren verwundet wie im Krieg. Wo doch keiner von uns nie niemand was getan hat. Dem Kerl ist recht geschehen und ich würd’s noch mal machen. Auge um Auge, Zahn um Zahn heißt es in der Schrift!“
„Ihr habt ihn getötet, Bas Marie?“
„Ich und die anderen. Totgeschlagen wie einen Hund. Mehr war er nicht als wie ein Hund, ein verreckter. Und dann hat er noch gewinselt wie ein Hund. Aber dass die Kinder gewinselt haben, das war ihm egal.“
„Aber es war doch Krieg und er war ein Soldat!“
„Die Kinder waren keine Soldaten und der Krieg war denen egal und uns auch, weil, wir waren auch keine Soldaten.“
„Und dann?“
„Es war ja nicht weit vom Forsthaus und dort war der Splittergraben für die Arbeiter, dort haben wir ihn reingeschmissen und den Graben schnell zugeschüttet.“
„Aber die Leiche muss doch bekleidet gewesen sein, man hat im Grab jedoch keine Stoffreste gefunden.“
„Weißt Du überhaupt was es bedeutete, am Ende des Krieges, wenn da einer liegt und hat eine Lederjacke an und Lederstiefel und warmes Unterzeug und für uns gab es nicht einmal ein Paar Handschuhe für die Arbeit im Wald? Der war schneller ausgezogen als wie totgeschlagen!“
Eiskalt schaute sie. Dann sank sie wieder in sich zusammen, die Augen trübten ein, das strenge Gesicht wurde kindlich rund, sie begann ihre Puppe zu wiegen, sang ihr ein Liedchen von den Franzosen mit den roten Hosen, fragte Franz, wer er sei, kicherte und sagte:
„Hast’ gehört, Liesel? Der Förster.-.Franz! Der will bestimmt wieder Quetsche strippsen bei mir. Wart’ nur wenn ich Dich kriege, Du Lauser, ich schlag Dir die Beine am Arsch ab!“
Franz stand auf.
Der Fall war gelöst.
Aber wem half das?
Sollte er die Alte als Mörderin anzeigen?
Er war sich sicher, dass kein Staatsanwalt je bereit sein würde, gegen diese kindische Hundertjährige, so wie sie jetzt vor ihm saß, einen Prozess anzustrengen. Und Specht war längst mit seinem unbekannten Amerikaner, der ein Engländer gewesen sein sollte, zufrieden.
Franz ging ohne Gruß zu seinem Wagen.
Er hatte zum Schluss auch diese die Schlacht gewonnen, letztendlich den Krieg aber verloren.